Gläserne Perle am See

Mies van der Rohes »Landhaus Lemke« wird 85 Jahre alt

  • Danuta Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Mies van der Rohe (1886 - 1969) im Jahre 1932 den etwas schräg zum Obersee hin abfallenden Bauplatz vorfand, wehte hier, im heutigen Hohenschönhausen, noch ein windigeres Lüftchen. Locker war die »Landhaussiedlung Obersee-Kolonie« mit Villen aus der Jahrhundertwende bebaut. An diesem Ort am nordöstlichen Stadtrand Berlins plante der letzte Bauhaus-Direktor - und neben Walter Gropius und dem Franzosen Le Corbusier einer der bedeutendsten Vertreter der Architekturmoderne - vor 85 Jahren sein letztes Wohnhaus, bevor er 1938 in die USA emigrierte.

Seit mehr als 25 Jahren widmet Wita Noack, die Leiterin des heutigen Mies-van-der-Rohe-Hauses, ihr Leben diesem Gebäude in Alt-Hohenschönhausen. Im Oktober erschien ihr neuer Band über das Bauwerk: »Schlicht und ergreifend«. Das Buch ist wie ein einstündiger Rundgang durch das und um das »Landhaus Lemke« angelegt.

Auf dem Weg zu dem 3000 Quadratmeter großen Grundstück an der Nordseite des Obersees passiert man an der letzten Weggabelung vor der Oberseestraße 60 ein verspieltes Schlösschen im Stil des Neohistorismus. Seit den 1970er Jahren treffen hier Plattenbauten auf die Eleganz des Villenviertels, und seit der Wende sind auch die letzten Baulücken gefüllt - formal manchmal durch einen Impuls aus der berühmten Nachbarschaft. Dass das Mies-van-der-Rohe-Haus immer noch so aussieht, als sei es gestern erst eingeweiht worden, liegt nicht nur an der grenzenlosen Zeitlosigkeit dieses Wohnhauses, an diesem Fluss zwischen Innen und Außen, zwischen Architektur und Natur, Mensch und Natur, sondern auch am Engagement einzelner Menschen, allen voran Wita Noack.

Kaum etwas erinnert heute an das Wohnhaus, das dieses Gebäude einmal war, auch wenn viele originale Bauteile wie die Türen, die Türbeschläge und die Fenster noch vorhanden sind. Einzig die Lage am See, die Ausrichtung zum Wasser hin mit wandhohen Verglasungen, das Bauen also mit der Sonne, zeugt vom Wohncharakter. Historische Fotos eines Bauhaus-Schülers aus Kanada, die in Noacks Buch erstmals der Öffentlichkeit gezeigt werden, erinnern an den Ursprung des Haues: Zum Leben, zum Wohnen ist es einst gebaut worden. Martha Lemke, die Frau des Druckereibesitzers und Bauherrn Karl Lemke, ist auf einem dieser Fotos mit einer Besucherin auf der Terrasse zu sehen. Diese öffnet sich zum Garten, der 1933 vom nicht minder berühmten Staudenexperten Karl Förster angelegt wurde. Lemke und der Architekt waren sich nicht sofort einig. Die Verbindung zwischen Haus und Garten musste erst erarbeitet werden.

1952 wurde Lemke enteignet. Das Haus aus Ziegelstein war in der Folgezeit bis zum Mauerfall 1989 unzugänglich für die Öffentlichkeit. Es wurde als Gästehauskomplex (Wäschedepot und Hausmeisterwohnung) für die Staatssicherheit genutzt und gleichzeitig 1977 unter Schutz gestellt. Es gab in der DDR bereits Sanierungsversuche - mit den Möglichkeiten von damals. In den Jahren 2000 bis 2002 wurde das Haus dann denkmalgerecht in den originären Zustand gebracht. Seit dem Abschluss der Sanierung dient es als Ausstellungsstätte.

Auch 2017, zwei Jahre vor dem großen Jubiläum »100 Jahre Bauhaus« (1919 bis 2019) muss man sich zielgerichtet auf den Weg machen, um das versteckte rechteckige Gebäude zu entdecken. Obwohl das »Landhaus Lemke« als Meilenstein gilt, gibt es kaum Hinweisschilder. Zwischen den Hochhäusern hindurch gelangt man auf eine kleine Insel. Die Häuser werden hier flacher, verschnörkelter, natürlicher, der menschliche Maßstab ist gegeben, man fühlt sich geborgen. Angelangt am Ziel, ist man dann überrascht vom unkonventionellen Purismus des flachen Bauwerks.

»Der Standort hat zum einen durch seine dezentrale Lage ein Alleinstellungsmerkmal«, erklärt Wita Noack. »Hier am See in einer Wohnsiedlung Kunstausstellungen machen zu können, ist schon etwas Besonderes. Zum anderen sind wir mit unseren Ausstellungen immer im Dialog mit der Architektur. Das ist sehr bewusst aufeinander abgestimmt.« Architekturinteressierte Menschen aus der ganzen Welt suchen das Haus auf. Amerikaner, Italiener, Chinesen kommen nach Hohenschönhausen, immerhin 18 000 im Jahr. »Für mich«, so Noack, »läuft das unter der Überschrift ›Lebendiges Baudenkmal‹. Bei den meisten Architektur-Ikonen der klassischen Moderne ist dies ja nicht so.«

An jedem ersten Sonntag im Monat findet die Führung »Mies verstehen« durch Haus, Garten und Ausstellung statt. Viermal im Jahr veranstaltet die Kunsthistorikerin Noack außerdem thematische Ausstellungen und nutzt »die gläserne Perle am See« als Ort der Begegnung, des Austausches, der Inspiration, als Ort auch der Entspannung auf den Gartenmöbeln. »Das Haus«, sagt Wita Noack, »wandelt sich mit seinen Ausstellungen.« Im nächsten Jahr plant die Museumsleiterin Ausstellungen, Symposien und Veranstaltungen zum Thema »Mies - Sitzen und Liegen« zur Einstimmung auf das Bauhaus-Jubiläum.

Wita Noack: Schlicht und ergreifend. Landhaus Lemke. Verlag form + zweck, 136 S., geb., 20 €.

Mies-van-der-Rohe-Haus, Oberseestraße 60, Hohenschönhausen. Geöffnet dienstags bis sonntags 11 bis 17 Uhr.

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