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Nicht einmal das Mindeste
Mehr Menschen als bislang bekannt arbeiten in Deutschland für weniger als den Mindestlohn
Sicher ist hingegen, dass viele Menschen, die arbeiten gehen, keinen Anspruch auf den Mindestlohn haben, insbesondere Selbstständige, Auszubildende und Beschäftigte in Branchen, in denen längere Übergangsregelungen gelten. Zählt man die hinzu, waren es sogar 4,4 Millionen Menschen, die mehr als ein Jahr nach Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze zum 1. Januar 2015 weniger als das Mindeste verdienten. »Die Ergebnisse belegen die Existenz eines großen Niedrigeinkommensbereichs in Deutschland«, schreiben die Autoren der Studie. In Gastronomie, Bau und Handel ist Lohnprellerei am verbreitetsten, Verstöße seien aber quer durch alle Branchen und Betriebsgrößen zu finden.
Dennoch sind die Löhne am unteren Ende der Einkommensskala gestiegen. Bewegte sich hier viele Jahre fast gar nichts, ging es zwischen 2014 und 2016 um 15 Prozent nach oben, fand das DIW heraus. Bei dem Anstieg handelt es sich jedoch noch immer um einen Cent-Betrag: Statt 6,63 Euro bekommen die zehn Prozent der Beschäftigten, die am wenigsten verdienen, nun im Schnitt 7,58 Euro pro Stunde. Dabei steht allen seit diesem Jahr sogar ein höherer Mindestlohn von 8,84 Euro zu.
Der Betrug schadet den Beschäftigten. Aber auch dem Staat gehen dadurch Sozialbeiträge und Steuern verloren. Die Bundesregierung will es jedoch offenbar nicht so genau wissen. Die von der Mindestlohnkommission verwendete Zahl von 1,1 Millionen Menschen, die 2016 weniger als die damals gesetzlich vorgeschriebenen 8,50 Euro bekommen hätten, basiert auf freiwilligen Angaben von Unternehmen, die Daten aus ihren Lohnbuchhaltungen melden.
Die DIW-Forscher halten diese Zahl deshalb für unbrauchbar. Demnach hätten sich für 2016 nur sieben Prozent der Betriebe zurückgemeldet, kleinere Betriebe besonders selten. Dort wird aber nach Wissen der Forscher am häufigsten die Lohnuntergrenze unterschritten. Sie haben hingegen die Beschäftigten selbst befragt. In ihrem sogenannten sozio-ökonomischen Panel berichten Arbeitnehmer aus 11 000 Haushalten jedes Jahr, wie viel sie arbeiten und was sie verdienen.
Als Konsequenz auf die festgestellten Verstöße fordern die Ökonomen, Gewerkschaften, Grüne und LINKE, die Kontrollen »endlich« zu intensivieren. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit müsse dafür auf 10 000 Stellen aufgestockt werden, meint der DGB. Zudem müssten die Sanktionen verschärft werden. Der entscheidende Hebel sind jedoch strengere Vorgaben für den Nachweis von Arbeitszeiten. Nach Ansicht des DGB könnten diese auch tagesaktuell erfasst und die Unterlagen am Ort der Beschäftigung aufbewahrt werden. Erstmals waren mit dem Mindestlohngesetz solche Dokumentationspflichten eingeführt worden. Arbeitgeber liefen dagegen Sturm und klagen bis heute über zu viel Bürokratie. FDP und Union wollen die Anforderungen deshalb reduzieren. Die Erfahrungen der ersten Monate bestätigen jedoch, dass nur durch umfassende Dokumentation die Einhaltung der Mindestlöhne überhaupt kontrolliert und Verstöße geahndet werden können. So gebe es oftmals weder Schichtpläne noch andere Aufzeichnungen über den Arbeitstag der Beschäftigten, bemängeln die DIW-Forscher. Manche Beschäftigte unterschrieben sogar Blankovollmachten nach dem Muster: »Hiermit bestätige ich, genau so viele Stunden zu arbeiten, wie für den Mindestlohn nötig sind.«
Arbeitsverträge wie diese sind rechtswidrig, aber lohnen sich, so lange das Entdeckungsrisiko gering und die Strafen verschmerzbar sind. Die verhängten Bußgelder seien oft niedrig, kritisiert das DIW, und Nachzahlungen an Beschäftigte und Sozialkassen müssten Betriebe kaum fürchten. Zwar können nach dem Mindestlohngesetz berechtigte Ansprüche bis zu drei Jahre später gerichtlich geltend gemacht werden. Dies scheitert aber bislang an den fehlenden Nachweisen und den hohen Hürden, die Gerichtsverfahren gerade für Menschen mit Niedriglöhnen ohnehin bedeuten. Der DGB rät den Beschäftigten vorerst, ihre geleisteten Arbeitsstunden selbst zu dokumentieren und von einer Kollegin oder einem Kollegen gegenzeichnen zu lassen.
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