Turbulente Traumsequenzen
In »momentum« von Toula Limnaios liefern sich brillante Tänzer fulminante Scharmützel
Die Choreographin Toula Limnaios hält in ihrem neuen Stück Wort. Denn »momentum« verspricht eine Reihung von Episoden ohne innere Bindung, eben Momente aus einem wirklichen oder erdachten Leben. Als Rahmen kann eine Speisesituation gelten. In der Mitte zwischen weißen Schals von Raumhöhe thront ein heller Tisch, an dem aber nicht gegessen wird, noch nicht. Denn den einsamen Mann lenkt hinten eine Art entkernter Gefrierschrank ab, in dem sich nicht etwa Essbares türmt, sondern in klaustrophobischer Enge eine fast nackte Blondine räkelt. Als der Mann die Tür öffnet, fällt sie ihm entgegen. Das Mahl könnte beginnen: Eine Frau serviert ihm eine Orange, stößt per Fuß die Hand einer liegenden Gestalt weg - wie Freddie Frinton in »Dinner for one« das Löwenfell. Doch statt die Orange zu verzehren, knetet der Einsame die biegsame Blonde auf dem Tisch.
Dann belebt sich die Szene. Silhouetten hinter Schals werden zu Menschen, fast alle Männer tragen Schlips, manche Frauen Abendkleider, einer bewegt sich das ganze Stück über elegant auf Rollschuhen. Zwischen den jeweils vier Frauen und Männern entwickeln sich im Verlauf der nächsten 60 Minuten die verschiedensten Beziehungen, ohne inhaltlichen Zusammenhang, doch fast immer verblüffend. Wenn schwungreich der Tisch umplatziert wird, erscheint dieser als neunter Tänzer. Oft fügen sich parallele Bilder wie Steinchen zu einem Puzzle, das jeder für sich enträtseln muss. So kann man sich ohne Schaden seine Lieblingsszenen aussuchen, sich an ihnen delektieren. Wenn etwa die Serviererin und der Rollschuhläufer eng tanzen, sie im Kopfstand auf seinen Füßen, mutet das skurril an. Zwei Frauen sind in Hebungen verklammert, einer anderen Frau kommt ihr Partner abhanden, dem Esser winkt endlich ein Mahl. Sechs dienstbare Geister bringen jedoch nur leere Teller, mit denen sie jonglieren, als seien sie zuvor im chinesischen Zirkus gewesen.
Viel abstrakte Gestik setzt Toula Limnaios ein, die mehrdeutig entschlüsselt werden kann. Sie durchwebt das Stück auch mit Witz, Slapstick, Stummfilmgroteske. So beispielsweise, als dem Mann doch noch etwas serviert wird, er aber kaum zum Speisen kommt, weil die Serviererin ihn füttert und ihm die Serviette um die Ohren haut.
Was den Abend besonders in der zweiten Hälfte so faszinierend macht, sind ungemein gut erfundene Duette. Die Blonde bleibt zunächst passives Opfer; zwei Männer brillieren in einem Streit voller Umheber, Rutscher und Bodenroller trotz Tellern in den Händen. In einem Stoffgespinst wird ein Paar hereingeführt; nur er vermag sich zu befreien, tanzt zunächst wie gefesselt, dann präzis in einem körperplastischen Solo. Ehe es zum choreografischen Höhepunkt kommt, stülpt sich eine Tänzerin eine Perücke vors Gesicht: Toula Limnaios zelebriert ihre Lieblingsmetapher. Was sich dann der Rollschuhläufer und sein Partner an fulminanten Schleuderscharmützeln mit Halt am Schlips liefern, fliegend wie im Eiskunstlauf, strangulierend im Kampf um Dominanz, ist atemberaubend akrobatisch und ebenso riskant wie danach die Gewaltorgie zwischen dem Rollerblader und der Blonden, die sich hier an den Männern für erduldete Pein zu rächen scheint. Am Ende der choreografischen Melange mit reicher Deutungsfreiheit sitzt einsam der Mann des Anfangs am Tisch und löffelt hektisch sein Süppchen, befreit von all den Plagegeistern: seines Alltags oder seines Alptraums? Mit hohem Klavieranteil in multiplen Überlagerungen trägt die Collage von Ralf R. Ollertz die Traumsequenzen bestens.
Nächste Vorstellungen am 9. und 10. sowie vom 13. bis zum 16.12. in der Halle Tanzbühne, Eberswalder Str. 10, Prenzlauer Berg.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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