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Brutal viel Rückenwind

Herbert Renz-Polster über Angst in der Kindererziehung und die Ängste der Eltern

  • Katja Choudhuri
  • Lesedauer: 9 Min.

»Fürchtet Euch nicht«: Diese Botschaft scheint bei vielen Eltern nicht angekommen zu sein. War Angst schon immer Teil der Erziehung?
Kinder sind nicht nur leicht zu verängstigen, sondern auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass wir Großen ihnen einen sicheren Rahmen anbieten. Kein Wunder, wurde doch die Angstbereitschaft des Kindes seit jeher als Hebel für die »Erziehung« des Kindes ausgenutzt. Schon König Salomon sagte in der Bibel: »Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten« (Sprüche 13, 24).

Da Kinder keine Möglichkeit haben, der Angst zu entgehen, wirkt Erziehung mit Angst beim Kind natürlich extrem stark und verunsichernd. In welchem Maße Eltern auf Zwang und Angst in der Erziehung setzen, hat aber immer auch eine gesellschaftliche Komponente. Immer wenn Gesellschaften gestresst sind, wenn Gesellschaften ihren Mitgliedern keine Wirksamkeit, keine Bindung, keine funktionierenden Beziehungswelten anbieten können, dann geht es mit den Kindern hart zur Sache. Dann werden Kinder unterdrückt und ihr eigener Wille wird als Bedrohung erlebt. Da Gesellschaften oft in Not waren, ist die Geschichte der Kindheit eine Geschichte der Unterdrückung von Schwächeren.

Ist Erziehung mit Angst Gewalt?
Natürlich! Kinder wenden sich an Eltern mit der existenziellen Frage: Bin ich hier geschützt, ist das eine gute, stimmige Welt? Wie sieht die Welt aus, in die ich hineinwachse? Und wenn Eltern immer widerspiegeln, das ist eine brutale Welt, da kannst du erleben, dass du ständig nichts zählst - diese Signale senden Eltern, die mit Angst erziehen -, wenn sie dem Kind vermitteln, deine Stimme wird nicht gehört, du bist schlecht, du musst dich schämen für das, was du bist, dann ist das Gewalt. Sie verhindert, dass die Kinder ihre menschliche Stärke aufbauen.

Was macht Angst mit dem Kind?
Kinder, die mit Angst erzogen werden, entwickeln ein großes Gefühl von Verletzbarkeit. Und eine erhöhte Stressbereitschaft, denn wer Angst hat, bei dem ist das Stresssystem immer aktiviert. Diese Menschen reagieren dann auch später im Leben leichter auf Stresserfahrungen. Sie sind weniger bereit, sich auf andere Menschen einzustellen. Es fehlt an grundsätzlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Das ist für mich auch eine Erklärung, warum wir heutzutage so viele Menschen haben, die für rechtspopulistische Ansichten anfällig sind.Diesen Menschen fehlt Sicherheit, weil sie sich nicht als wirksam und doch geschützt erleben durften. Aus dieser Schwäche heraus unterwerfen sie sich Autoritäten und setzen auf vermeintliche Überlegenheit. Das zeigt sich jetzt auch in den Wahlergebnissen der AfD.

Was macht Menschen, umgekehrt gefragt, dann sicher?
Die positive Grunderfahrung eines Menschen setzt sich aus zwei Aspekten zusammen. Zum einen aus dem Gefühl der Zugehörigkeit und dem Vorhandensein funktionierender Beziehungen: Ich bin eingebunden, ich gehöre dazu, ich bin Teil von Beziehungen, in denen ich als der Mensch vorkomme, der ich bin. Dieses Gefühl trägt den Menschen. Wer diese Erfahrung nicht macht, fühlt sich ausgeschlossen und nimmt sich mitunter wie ein Objekt wahr, als eine verfügbare Manövriermasse.

Zum anderen braucht es Selbstwirksamkeit und die Erfahrung, Entscheidungen zu treffen und in die Welt eingreifen zu können, für eine positive Grunderfahrung. Diese beiden Seiten sind von Geburt an Teil des menschlichen Bindungs- und Bedürfnissystems. Auch kleine Kinder wollen dazugehören und gleichzeitig wirksam sein und selbstständig werden. Menschen, die von diesen Erfahrungen getragen werden, geht es gut.

Viele Menschen, zum Beispiel Kriegs- und Nachkriegskinder, haben teilweise schlimmste Erfahrungen in ihren Elternhäusern gemacht. Welcher Fähigkeiten bedarf es, dass man seine eigenen schlimmen Erfahrungen nicht weitergibt und was können junge Eltern aus diesen Erfahrungen lernen?
Da braucht es brutal viel Rückenwind. Die Stärke, die diese Menschen trotz ihrer Erfahrungen entwickelt haben, gründe sich auf gute Erlebnisse, die diese Menschen in ihrem Leben eben auch gemacht haben. Das Positive ist ja: Menschen können über ihre Muster hinwegkommen, wenn sie neue Fäden aufgreifen können. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sie gute Beziehungsmodelle außerhalb des Elternhauses kennenlernen, also Menschen, die verlässlich zu ihnen stehen und ihnen Wertschätzung geben - ob das Freunde sind, Lehrer oder Partner.

Für ein Kind ist es auch ein Plus, wenn Gewalterfahrungen nicht pervasiv sind, das heißt, wenn sie nicht im ganzen sozialen System verankert sind. Ganz wichtig war auch, dass viele dieser Kinder sich außerhalb des Elternhauses verwirklichen konnten, sie konnten als Spielkameraden bedeutsam sein, sie konnten an Herausforderungen wachsen: Und ich glaube, das können wir uns heute nicht genug sagen: Kinder, die in rigiden familiären Verhältnissen aufgewachsen sind und dort eigentlich viel Not und Beziehungsstress erlebt haben, die hatten gleichzeitig eben auch sehr viel Raum und Gelegenheit für Selbstbewährung. Das hat sie stark gemacht.

Auch wenn es zu Hause eng und dunkel war, hatten die Kinder draußen einen eigenen Lebens- und Gestaltungsraum. Hier haben sie freies Spiel und Verantwortung erlebt und konnten unter den verschiedenen Kindern unterschiedliche Rollen einnehmen. Das löst vorhandene Ängste und stärkt Kinder, macht sie resilient.

Welche Haltung nehmen Menschen gegenüber einem Kind ein, die meinen, sie müssen durch Angst auf das Leben vorbereiten?
Früher hat man lange gedacht, Babys und Kinder hätten eine problematische Natur, die es zu überwinden gilt. Sie wurden als Bedrohungen wahrgenommen, als Wesen, die diszipliniert werden müssen. Ein solch negatives Kinderbild ist natürlich eine Belastung.

Außerdem bringt jeder Mensch in den Umgang mit Kindern seine eigene Beziehungssprache mit, die im jeweiligen kulturellen Kontext erlernt wurde, und die hat viel damit zu tun, wie wir selber behandelt wurden. Sie prägt den Blick auf das Kind. Sehe ich das Kind positiv im Sinne von: Ich kann vertrauen. Oder aber negativ im Sinne von: Ich muss das Kind kontrollieren? Eltern, die mit Angst erziehen, tun dies in der Regel deshalb, weil sie selbst Angst haben oder Nöte verspüren.

Ist diese Sicht auf die Kinder einem Wandel unterworfen?
Die Gesellschaften schwanken immer zwischen positivem Menschenbild und eher negativem Menschenbild. Ein Beispiel ist die Zeit der Aufklärung, in der die Entstehung der Bürgerschicht neue Denkmöglichkeiten oder soziale Positionierungen erst möglich gemacht hat. Hier hat sich das Menschenbild dadurch geändert, dass die Menschen nicht mehr von Geburt aus sozial positioniert waren. In dieser Zeit wurden sehr viel menschliche Möglichkeiten ausgelotet. Wenn die Menschen Grund zum Optimismus haben, es ihnen gut geht und es der Gesellschaft gut geht, dann entsteht eher ein liberalisiertes Menschenbild und damit auch Kinderbild. Für Deutschland kann man sagen, dass Ende der 1960er/70er Jahre ein Wandel in der Kindererziehung stattgefunden hat.

Im Vergleich hierzu haben sich in den USA schon etwa 15 Jahre vorher neue Sichtweisen auf Kinder etabliert. Schon mit Ende der Kriegszeit wurden hier Rufe lauf: Ihr dürft eure Kinder und Babys lieben! Die Grundlage hierfür war, dass ein ganz neuer Optimismus in der Gesellschaft aufgekommen ist, in der sich ein Wandel von Befehlsketten hin zur Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat, die dem Einzelnen mehr Autonomie und mehr Wirksamkeit ermöglicht hat.

Und das hat sich dann übertragen auf den Blick auf das Kind: Die sind ja vielleicht gar nicht solche Tyrannen, die sind vielleicht gar nicht so animalische Triebnaturen, denen wir blinden Gehorsam mit Angst anerziehen müssen! Dieser angstfreie Blick auf ihre Bedürfnisse hat den Kindern gutgetan.

Die Erziehungsmethoden haben sich geändert. Allerdings scheint es heute so zu sein, dass nun die Eltern Angst haben.
Es macht mir Sorge, dass wir heute die Kinder wirklich immer mehr in programmierte Lebenswelt eingliedern, die ihnen kaum Raum für Resilienzerfahrungen lässt. Aber dennoch muss ich die Eltern verteidigen: Sie haben Angst, und dieses Gefühl ist berechtigt. Die Zeiten, in denen Eltern locker waren, also locker im Sinne von der Blick in die Zukunft ist gut, die sind vorbei.

Die Eltern müssen sich heute ja tatsächlich auf eine Welt einstellen, in der es ihren Kindern eher schlechter gehen wird. Deshalb ist verständlich, wenn Eltern verkrampft sind und sagen, ich muss mein Kind fördern, damit es nicht abgehängt wird. Sie kontrollieren und pädagogisieren ihr Kind, um es fit zu machen. Und schon entstehen Kindheiten, die eigentlich kaum mehr sind als eine Strecke, auf der die Kinder sich für den Job warmlaufen. Ich möchte die Eltern aber dazu ermutigen, vor lauter Zielen die Kinder nicht zu vergessen. Sie brauchen heute genauso wie früher - oder vielleicht heute noch mehr? - ein Fundament, auf das sie sich verlassen können. Also, dass sie gut mit sich selber klarkommen, dass sie mit den andern gut klarkommen, dass sie innerlich stark und selbstbewusst sind, ja, und dass sie kreativ und aufgeschlossen sind. Ihr wichtigstes Kapital sind bis heute die wachen, neugierigen Augen!

Deshalb darf Erziehung jetzt nicht zu einem Panik-Konzept werden. Auch heute geht es doch darum, die Kinder zu kompetenten Persönlichkeiten reifen zu lassen, die in der Lage sind, das Beste aus einer Situation zu machen. Das Kind mit Angst, Druck und Forderungen zu erziehen, ist da eher hinderlich. Denn man kann das den Eltern nicht oft genug sagen: Die Kinder werden einmal in einer Welt klarkommen müssen, die wir noch gar nicht kennen. Sie müssen sich wirklich auf eine unbekannte Zukunft einstellen. Und das können sie nicht, indem sie lediglich eine von den Eltern programmierte Kindheit durchlaufen.

Stichwort »Helikopter-Eltern«. Eltern, die sich bemühen, andere Wege zu gehen, schlägt mitunter ein kalter Wind entgegen.
Eltern bringen unterschiedliche Beziehungssprachen mit: Wie blicke ich auf mein Kind? Wie gestalte ich die Beziehung zu ihm, wie gehe ich auf seine Bedürfnisse ein? Anhand dieser Fragen grenzen sie sich voneinander ab, und rasch heißt es dann: Ich mache es richtig, du machst es falsch. Das ist Teil unseres kulturellen Spiels. Hier werden Haltungen gegenüber dem Kind verhandelt.

An der Härte, wie diese Debatten geführt werden, offenbart sich auch eine Art Beißreflex: Wer glaubt, einen bestimmten Weg nicht gehen zu können, weil er nicht die Freiheit dazu hat, wertet sein Gegenüber ab. Ein uraltes Spiel!

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