»Hätte ich nur Flügel ...«

Eine Ausstellung in der Freiburger Universitätsbibliothek präsentiert Briefe von Vätern aus dem Gulag

  • Dirk Farke
  • Lesedauer: 4 Min.

Im vergangenen Jahr wurde auch in Deutschland auf vielfältige Weise des 100. Jahrestags der Russischen Revolution gedacht. Filme, Vorträge, Bücher und Broschüren überfluteten regelrecht historisch Interessierte mit neuen oder vermeintlich neuen Informationen und Fakten vor allem zum Oktoberaufstand der Bolschewiki, der die Welt veränderte und das 20. Jahrhundert prägte. Oft genug ging es den Buch- oder Filmautoren wie auch manchen Ausstellungs-Kuratoren lediglich um die Suggestion, dass jeder Versuch, ein anderes, menschlicheres, gerechteres und friedlicheres, weniger mörderisches Reproduktionssystem als den real existierenden Kapitalismus zu etablieren, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt sei. Dabei wurde stets auf den Stalinismus verwiesen, an den immer wieder zu erinnern ist, der aber keine zwangsläufige Erscheinung war.

In Freiburg im Breisgau ist zurzeit im Rahmen der Russischen Kulturtage eine Ausstellung zu sehen, die zweifellos eines der größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte beinhaltet: den Gulag, das System der Straf- und Arbeitslager in der ehemaligen Sowjetunion. Das russische Wort, korrekt eigentlich »GULag«, bezeichnet ursprünglich eine Abkürzung für die 1930 in der Sowjetunion geschaffene Sonderbehörde für die Arbeitslagerverwaltung. Durch den weltberühmten Roman »Archipel Gulag« von Alexander Solschenizyn ging es in der vereinfachten Schreibweise in die Sprache der Welt ein.

Historiker gehen davon aus, dass allein in den Jahren zwischen 1929 und 1953 in 476 Lagerkomplexen mindestens 18, eventuell aber auch über 30 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten mussten. Drei Millionen von ihnen rafften die unmenschlichen Haftbedingungen, Hunger und Krankheiten dahin; mehrere Hunderttausend wurden erschossen, standrechtlich, willkürlich. Unter den Fachleuten besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass nicht allein die Angehörigen von als Klassenfeinde ausgemachten Gruppen, wie etwa die Kulaken, Großgrundbesitzer und Kleriker oder auch Kriminelle, sondern letztendlich jeder Sowjetbürger zu jeder Zeit damit rechnen musste, verhaftet zu werden. Die überlieferten Zeugnisse aus dem Gulag, Briefe, Tagebücher, autobiografische Skizzen und Zeichnungen, sind wertvolle Artefakte, die vom Alltag, den Leiden, Hoffnungen, Sehnsüchten der Gulag-Häftlinge berichten. Neben diesen schriftlichen oder bildnerischen Hinterlassenschaften präsentiert die Ausstellung auch primitivste Gebrauchsgegenstände, Arbeitskleidung und Werkzeuge, die von den entsetzlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in den Lagern zeugen. Der Kuratorin Margarita Augustin ist es gelungen, Exponate aus den Beständen des Staatlichen Gulag-Museums Moskau sowie des ebenfalls dort ansässigen Memorial-Archivs in die Ausstellung zu integrieren.

Die in der Universitätsbibliothek gezeigten Briefe stammen allesamt von der russischen Menschenrechtsorganisation. Sie sind bereits vor vier Jahren in einer Ausstellung in Moskau unter dem Titel »Papas Briefe« gezeigt worden. Das Konzept wurde in Freiburg durch einen informativen, sehr sehenswerten, wenn auch bedrückenden Dokumentarfilm erweitert, der ausführlich den historischen Hintergrund beleuchtet, sowie mit ausgiebigem zeitgenössischen Fotomaterial. Studierende der Slawistik haben darüber hinaus versucht, für diese Ausstellung russische Spätaussiedler, die heute im Raum Freiburg wohnen, zu ihren Erfahrungen mit dem Gulag-System zu befragen. Wie Elisabeth Cheauré, Professorin für Slawische Philologie und Gender Studies an der Freiburger Alma mater, in einer Diskussionsrunde berichtete, gestaltete sich diese Aufgabe jedoch schwieriger als gedacht: »Viele haben bis heute Angst, darüber zu sprechen, denn sie befürchten eine weitere Verschlechterung der politischen Zustände in ihrem Heimatland und dann eventuell auch weitere Repressionen.«

Die zweifellos erschütterndsten Dokumente der Exposition sind die Briefe inhaftierter Väter an ihre Kinder. Zwar wurden oft genug auch Frauen für die »konterrevolutionären Verbrechen« ihrer Ehemänner mitverantwortlich gemacht und ebenfalls in Arbeitslager gesteckt, dennoch verzichten die Verantwortlichen bewusst auf die Präsentation von Mütterbriefen. Mütter überlebten den Gulag häufiger als Väter; die Briefe der Väter sind daher oftmals deren letzte Botschaften und damit psychologisch von besonderer Bedeutung.

Margarita Augustin war es wichtig, den Ermordeten eine Stimme und den Opfern ein Gesicht zu geben. Beispielsweise dem Physiker, Mathematiker und Diplom-Landwirt Alexej Wangenheim, geboren 1881, erschossen 1937. Er war Professor an der Moskauer Universität und Mitglied der Kommunistischen Partei. Seinen Eröffnungsvortrag beim Allunionskongress 1933 in Leningrad hatte er aus Respekt vor ausländischen Gästen auf Französisch gehalten, was Stalin missfallen haben soll. In einem seiner ersten Briefe nach seiner Verhaftung 1934 an seine damals vierjährige Tochter heißt es: »Meine ganze Seele drängt zu Dir. Hätte ich nur Flügel, würde ich zu Euch fliegen. Ich würde Dir dann alle Deine Puppen und Dein Rad reparieren. Viele Küsse, Dein Papa.«

»Letzte Botschaften - Briefe von Vätern aus dem Gulag«; bis 16. Februar in der Freiburger Universitätsbibliothek, Platz der Universität, täglich 10 bis 20 Uhr.

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