»Was steckt unter der Tünche?«

Christa Wolf, Lew Kopelew: Der Briefwechsel - Trost und Trotz, Heimat und Heimsuchung

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Den Dummen schmerzt nicht, was ihm fehlt; dem Klugen dagegen tut weh, was ihm eigen ist - einzig im Schwächebeweis offenbart sich Intelligenz. Schwäche ist Umschau: Hoffentlich bin ich nicht allein. Christa Wolf (1929 - 2011) und Lew Kopelew (1912 - 1997) schreiben einander Briefe, weil der Trotz gegen die Welt immer auch Trost benötigt. Schon der Trost ist Trotz. Und der größte Trost ist das Beispiel des Menschen, der »Irrtümer überwinden, sich korrigieren, falsche Götter in sich stürzen und weiterleben kann«. So sagte es Christa Wolf am Sarge Kopelews in Köln.

Sie lernen einander kennen im Hause von Anna Seghers. Christa Wolf beschreibt diesen Abend, Mitte der sechziger Jahre. Seghers, die Ehrenwerte, hatte heftig mit dem »jungen Mann« aus Moskau gestritten, denn der nennt Ilja Ehrenburg einen Stalin-Beschöniger, zudem hasst Lew Kopelew das Wort vom Personenkult, »weil es den wahren Sachverhalt verschleiert«. Das 20. Jahrhundert und seine bleibend offenen Wunden: Auch Freundschaften werden nicht von Frontziehungen verschont. Die Vernunft verdirbt, wo sie das Diktat der Doktrinen höchstens mildern, nicht wirklich abschaffen will. Oder nicht kann. Christa Wolf: »Für die nächste Zeit sind unsere Prognosen nicht sehr heiter ... Was steckt, hüben wie drüben, unter der Tünche?« Lew Kopelew: »Die ideologische Impotenz der offiziellen Prediger ist offenbar und unheilbar.«

Nach jenem Abend bei Anna Seghers fährt Christa Wolf mit ihrem Mann Gerhard nach Hause, entlang der Berliner Mauer, mit dem Gefühl, »dass es eine merkwürdige Welt ist, in der wir leben. Und dass wir sehr weit davon entfernt sind, etwas Echtes darüber zu Papier zu bringen.« Das ist er, der frühe Keim jener Traurigkeit, die ihr Werk nie verlassen wird. Denn: Zuvörderst Parteilichkeit gilt im Block des Ostens, und sie ist mehr und mehr der Feind der Wahrheit. Auch aus diesem Empfinden heraus ist die Autorin eine suchende, empörte, besorgte Briefschreiberin geworden.

Briefe und Karten von 1969 bis 1997. Da ist also die deutsche Erzählerin - so durchdrungen ernst; mit ihrer Idealtreue geradezu geschaffen für Enttäuschbarkeit; immer nah an den Rändern zu einer Ermüdung, die aus Erfahrung wächst: Der Mensch bleibt leider sehr pragmatisch, just dann, wenn er lernen möge, einer Herrschaft zu widersprechen - das gilt für die Zeit vor wie nach der friedlichen deutschen Revolution 1989. Und da ist der russische Intellektuelle, einst leidenschaftlicher Junggenosse für Stalin, im Krieg dann von den eigenen Leuten zur Lagerhaft verurteilt, wegen »Propagierung des bürgerlichen Humanismus und Mitleid mit dem Feind«, später Dissident, Ausgebürgerter. Kurz vor seinem Tode hatte Kopelew an Heinrich Böll geschrieben, er sei leidenschaftlicher Kommunist gewesen, aber glücklich über die Fügung der Abkehr: So sei ihm möglich geworden, zurückzukehren in die Rätselhaftigkeit und Melancholie der Existenz.

Austausch zweier Schriftsteller, zweier Familien. Lebensbelohnt wie lebensgeprüft. Die Schreibmühen. Die Reisefreiheit, die Reiseunfreiheit. Die Selbstzweifel. Die Weltpolitik. Wolfs Freude an Kindern und Enkelkindern. Kopelews Abscheu gegen »rechtsaußen« und »linksaußen«. Wer gibt, wer nimmt in diesen Briefen? Kopelew herüber: »Es ist sehr gut, dass du in dieser Welt da bist.« Wolf hinüber: »Du unverbesserlicher Utopist und Menschenfreund.« Kopelew an Anna Seghers: Er sei leider ein Greis, »sonst hätt ich mich in Christa abgrundtief verliebt«.

Wolf und Kopelew lebten eine lange Briefzeit in geteilter Welt. Der Austausch ist bis 1989 ein Kassiber der ausscherenden Kraft, er unterläuft und überfliegt jene Grenzziehungen, auf denen großer Druck liegt. Da schreiben sich zwei Mut für eine Freiheit zu, die sich von niemandem instrumentalisieren lassen will. Im jetzigen Zeitalter der Flapsköpfe, da jede Distanz mehr zählt als ethische Beteiligungsarbeit, in solcher Gesellschaftsphase wirkt die Erinnerung an Wolf und Kopelew wahrlich als ein Sinnen über Protoseelen des - »Gutmenschentums«. Ein Begriff, der von den bunten Wänden der Leere-Depots widerhallt, darin die Unberührbaren, die Sarkasmusknechte wie in einer Falle stecken, die ihnen jeden Tag eine Beweisfron abverlangt: frei, frech, glücklich moralfrigide zu sein.

Schön ist in diesem postalischen Gespräch das gegenseitige Geltenlassen - als sei nichts leichter zu lernen als das. Unmittelbarkeit als das Höchsterringbare. Die Ausstaffierung von Einsamkeiten mit Sinn - zu dem der jeweils andere Mut macht. Als sie 67 wird, denkt Christa Wolf, »die Zeit wird knapp, aber wenn ich mich frage, wozu sie eigentlich knapp wird, weiß ich das nicht so genau. Denn andererseits - manches, was da in Zukunft so auf uns zukommt, möchte ich gar nicht mehr erleben.« Eine tätige Rettung bleibt immer: Schreiben und Lesen. Kopelew etwa über Goethe: ein »Freidenker und Skeptiker«, aber was er nicht sehen wollte, war »das tragische Weltgeschehen in seiner untröstlichen, irrationalen, unabwendbar grausamen Entwicklung«. Und über Brecht: ein Genius, aber er hat auch »drittklassige Propaganda geschrieben«.

Diese Briefe, die von zeitresistenter Zuneigung, von fragloser Solidarität, vom Aufbäumen der Anständigkeit gegen die Dogmatik erzählen, dürfen als Zuarbeit für den erwähnten Zeiten- und Weltenwandel 1989 betrachtet werden. Begleitet sind die Texte von präzisen, geradezu erzählerischen Anmerkungen der Herausgeberin Tanja Walenski und ihrem spannenden (hier ein Adelswort!) biografischen Essay - dieser Text hat den schönen Titel »Buchweizenlicht«.

Es geht eine Atemnot durch dieses Buch, aber ebenso ein Atemschöpfen. Einerseits die Schwerstarbeit des Begreifens nach 1945, dass neue Zeiten nicht unbedingt eine neue Zeit hervorbringen; andererseits eine würdevolle Abkehr von jenen westlichen Ideologen, die nach 1990 unverschämt behaupteten, die Austreibung der SED sei einzig das Flucht-Werk von Millionen heimlicher BRD-Bürger gewesen. Und dazu noch die Infamie dieser westelbischen Sieger, die Christa Wolf eben noch als ostdeutschen Widerstandsgeist umgarnten, ihr nun aber den Stempel der DDR-»Staatsdichterin« aufdrückten. Weil sie nicht Dankbarkeit zeigte, sondern einen »Dritten Weg« jenseits der alten Bundesrepublik träumte. Auch Kopelew wendet sich gegen jene Schandschablone, »die Geschichte der DDR als einzig öde Durststrecke« zu verunglimpfen. Nein, in ihr hat es »fruchtbares geistiges Leben« gegeben.

Der Schreibtisch als Arbeitsplatz gegen Ideenbetrug und Selbstbetrug. Und am Arbeitsplatz, so Christa Wolf, die Folter: gegenüber Lesern »Motor und Notbremse« zugleich zu sein. Sie lebt gleichsam »mit abgehackten Händen« in dieser DDR, »von der wir aber nun mal ums Verrecken nicht lassen können«. Heimat nicht als Utopie, sondern als Heimsuchung durch Verlust. Nicht als das, was Bloch an Zukunft sieht, sondern als das, was man verlor. Jeder Lebenslauf neigt sich so zur gleichen Bilanz hin: Wir alle sind Vertriebene.

Für mich am erschütterndsten im Buch: ein Brief Christa Wolfs an Raissa Orlowa-Kopelew vom März 1984. Das Zerrissenheitsprotokoll. Die Wundbetrachtung, pflasterlos. Das Leben in der DDR bei allem Guten, das ihm abgerungen werden kann: eben doch auch diese elende »Unzumutbarkeit«. Diese Entsolidarisierung, diese Überwachung; »an die Listen, auf denen jene vermerkt sind, die im Krisenfall in Lager zu transportieren sind, glaube ich fest«. Lange habe sie gebraucht, schreibt Christa Wolf, um sich »von jedem Rest innerer Identifizierung mit der herrschenden Schicht, also auch mit dem Herrschaftssystem zu befreien«. Was sie widerspruchszerrend in der DDR hält, ist »die Pflicht und Möglichkeit, das Scheitern des Experiments zu beschreiben. Drüben, in der Traum-Leere, würde ich mein Thema verlieren; ich bin zu alt, ein neues zu gewinnen.«

Einmal schreibt Kopelew, die Welt sei übervoll von »unbewältigten Vergangenheiten, von bitteren stummen Wahrheiten und süßesten vorlauten Dingen, von zerstörten und neu keimenden Illusionen, von trotzigen Hoffnungen und tödlichen und belebenden Zweifeln, von verschiedenen Arten und Abarten der Verzweiflung« - genau davon erzählen diese Briefe. Mitteilungen als ein inständiges Miteinanderteilen. In diesen Texten darf sich die Welt bedanken: Sie wird darin mehr geliebt, als sie vielleicht geliebt werden sollte.

Christa Wolf, Lew Kopelew: Sehnsucht nach Menschlichkeit. Der Briefwechsel 1969 - 1997. Dokumente, Texte und Fotos. Hrsg. von Tanja Walenski. Steidl Verlag, 357 S., geb., 28 €.

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