Sich niemals hängen lassen
Depeche Mode spielten in der Berliner Mehrzweckhalle am Ostbahnhof
Depeche Mode ist als Band ein Jahr älter als der Autor dieser Zeilen. Im Laufe von fast 40 Jahren stellen sich Konzertroutinen ein, nach denen man bei den Engländern fast die Uhr stellen kann und die auch bei der jetzigen Hallentour nicht fehlen: Die überbordende, mit Kajal untermalte Körperlichkeit Dave Gahans, der ruhigere Solopart von Frontmann Martin Gore in der Mitte des Konzerts, überbordende Euphorie am Ende bei »Never let me down again« oder der letzten Zugabe »Personal Jesus«. Und doch ist bei der »Global Spirit«-Hallentour einiges anders: Manches liegt in der Hand der Band, anderes ist Zeitgeist und Zeit geschuldet.
Ein Konzertbesuch 2018 startet mit einem Einlassprozedere, das dem Einchecken an Flughäfen ähnlich ist, Metalldetektoren und Polizisten sollen Sicherheit suggerieren. Und wie es an Flughäfen im Spätkapitalismus nicht primär ums Fliegen, sondern ums Einkaufen geht, ist auch in der Mehrzweckhalle am Ostbahnhof der Weg zum Eigentlichen, der Musik, verstellt von zu Werbezwecken im Foyer platzierten Autos, Merchandising und Verkaufstresen inklusive prekär Beschäftigter und gigantischen Gewinnmargen für Speis und Trank.
In den besten Momenten ist all dies vergessen. Depeche Mode schaffen es, die ganze Halle mitzureißen – wenn auch nicht alle aus ihren Sitzen, was bei den tanzbaren Stücken eigentlich nur mit körperlichen Einschränkungen zu entschuldigen ist. Doch vielleicht bremst ein Mittwochabendtermin im Januar auch die Euphorie. Es ist aber auch die Band selbst, die ihren Akzent mit ihrem 2017er-Album »Spirit« verschoben hat – welcher ernst zu nehmende Künstler wird nicht automatisch politischer? Und so rotzt Gahan die Single »Where’s the Revolution« raus und resigniert: »People you letting me down.« Ja, die Leute lassen einen hängen und die Falschen gewinnen gerade überall Oberhand und man verspricht sich doch später trotzdem, sich niemals wieder hängen zu lassen.
Depeche Mode haben ähnlich wie The Smiths, wenn auch auf anderen musikalischen Pfaden, den oft leicht melancholischen Soundtrack zur Thatcher-Ära beigesteuert (immer noch groß: der textlich skeletierte Neoliberalismus in »Everything Counts«), sind in den 90ern fast an ihrer Übergroße zugrunde gegangen. Haben sich neu erfunden, drohten dann in den 2000ern zur eigenen Coverband zu werden.
Die Kurve hat Depeche Mode genommen, die Konzerte sind heute mehr als reine Klassiker-Mitsing-Abspielveranstaltungen. Manchmal schießen sie allerdings übers Ziel hinaus: Viele Songs werden mit Videos hinterlegt, was manchmal ein großartiges Doppelspiel mit den Musikern auf der Bühne ergibt (»Walking in my Shoes«), manchmal allerdings nur ärgerlich ablenkt – die Zuschauer wollen eben doch eher Gahan sehen, dessen Drehungen und Hinternwackler jedes Mal frenetisch abgefeiert werden. Groß am Ende das im Tempo ganz leicht verschleppte »A Question of Time«, was den Bass noch markerschütternder macht. Etwas überraschend das abrupte Ende von »Personal Jesus«, was auch das Konzert beendet – keine Erlösung in sphärischen Soundteppichen. Aber Erlöserkraft im Disco-Großraum muss Depeche Mode auch nicht mehr beweisen.
nächste Konzerte in Berlin: 19.01 MZH Ostbahnhof, 23.07. Waldbühne.
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