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Im Proletariat nichts Ungewöhnliches

»Anton macht’s klar«: Wie das Kinder- und Jugendtheater »Grips« tut, was das Erwachsenenschauspiel unterlässt

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Unter klamaukfreudigen Linken kursiert derzeit ein Internetphänomen, das einen im Alltag von Wichtigerem ablenken kann. Mithilfe des Hashtags #ImProletariatNichtsUngewöhnliches verbreiten Nutzer von Facebook und Twitter zum Schlagwort passende Beiträge. Da gibt es etwa eine Pressemeldung über ein Messgerät der Berliner Polizei, das bei einem Promilletest versagt hat, weil die Blutalkoholkonzentration des Kontrollierten viel zu hoch war. Da wäre auch das Foto eines Mannes im Monteuranzug, der inmitten der S-Bahn-Hektik im »Kapital« von Karl Marx schmökert. Viel Aufmerksamkeit erregte das Bild einer Taube mit einem Zwanzig-Euro-Schein im Schnabel, darunter der Satz: »Dieses Gefühl, wenn ein Vogel mehr Geld hat als du.«

Das Meme, wie solch ein Online-Hype genannt wird, spielt mit dem überwunden geglaubten Bild des derben, starkarmigen, seinen Frust ob der entfremdeten Arbeit im Bier ertränkenden Proletariers. Ohne ironische Distanz ist es gerade in hochkulturaffinen Kreisen nicht mehr gern gesehen, sich mit der Armut in Wohlstandsgesellschaften auseinanderzusetzen. Für das Theater gilt dies ganz besonders. Der Dramaturg Bernd Stegemann benennt in seinem Buch »Lob des Realismus« einen Grund, warum es kaum mehr Autoren gibt, in deren Texten auch Menschen vom unteren Klassenrand der Gesellschaft vorkommen: Stückeschreiber, Regisseure und Schauspieler »werden daran gehindert, ihre Not als systemisches Problem denken zu dürfen, und dafür verlacht, falls sie es wagen sollten, hierfür eine Darstellung zu finden. Sie müssen ihr Dasein als singuläres Schicksal annehmen, das im Wettbewerb seinen Wert erkämpfen muss.«

Was das Erwachsenenschauspiel selten zulässt, das ist ein Kerngeschäft eines Berliner Kinder- und Jugendtheaters geblieben: Im Repertoire des »Grips« am Hansaplatz befinden sich mehrere Produktionen, die nicht um den heißen Brei heruminszeniert sind. In »Aus die Maus« geht es um Obdachlosigkeit, »Pünktchen trifft Anton« ist Volker Ludwigs Neufassung von Erich Kästners sozialrealistischem Kinderbuch, »Laura war hier« erzählt von einer Siebenjährigen mit alleinerziehender Mutter.

Letzteres Stück stammt von Milena Baisch. Auf einem ihrer Romane beruht auch die neue Produktion am »Grips«. »Anton macht’s klar«, eine »Gangsterkomödie für Menschen ab acht Jahren«, handelt wieder von Haben und Nichthaben. Anton (Patrik Cieslik) geht in die fünfte Klasse. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als in Heelys zur Schule sausen zu können. Das sind Turnschuhe mit Rollen an den Sohlen. Mit seinen Schulfreunden Max (David Brizzi), Xiaomeng (Amelie Köder) und Fanny (Nina Reithmeier) hat er verabredet, beim Ausflug in den Freizeitpark nächste Woche mit den schnellen Hyper-Tretern von Attraktion zu Attraktion zu fahren. Alle haben ihre Heelys längst. Nur Anton nicht. Ein Paar kostet hundert Euro, und Antons Eltern fehlt dieses Geld, weil sein Vater (Christian Giese) seinen Job als Leiharbeiter verloren hat, weil eine saftige Betriebskostennachzahlung ansteht und weil zu allem Überfluss auch noch die Waschmaschine kaputt gegangen ist.

Was tun? Zugeben, dass zu Hause das Geld fehlt, kann Anton auf keinen Fall. Seit der Sozialstaat neben materiellem Mangel und Perspektivlosigkeit auch noch die Beschämung zur Disziplinierung der Armen auserkoren hat, fällt so etwas umso schwerer. Im ersten der vielen Songs, für die Volker Ludwig die Texte geschrieben hat, singen die Kinder: »Wer nicht in ist, wird gedisst, / bis er sich vor Scham verpisst. / Meine grüne Plastikjacke, / gestern super, heute kacke. / Und die pinken Jeans von dir / stinken nach Hartz vier.«

Regisseur Rüdiger Wandel setzt auf kurze Szenen, um die von Boris Pfeiffer in pointierte Dialoge gefassten Romansequenzen auf die behutsam gestaltete Bühne von Mathias Fischer-Dieskau zu bringen. Da wechselt die Szenerie von der Küche zum Schulhof, vom Kiosk zur Straße und vom Hobbykeller zum Spielplatz. Das Ensemble kann durch solche Ortswechsel den Figuren eine Tiefe verleihen, wie sie in Kinderstücken gar nicht so leicht herzustellen ist.

Das betrifft insbesondere Ralle (David Brizzi), den in Zimmermannskleidung auftretenden Freund der Familie. Der hält sich mit Kleinreparaturen über Wasser und wirkt sehr belesen. Als Anton hinterrücks Ralles Drucker nutzt, um Geld zu fälschen, da muss er sich nach dem Auffliegen seiner Gaunerei nicht etwa eine Standpauke anhören, wie sie ihm der wunderbar überzeichnete Lehrer Rodriguez (Christian Giese) entgegenbrüllen würde. Nein, Ralle baut Anton singend auf: »Halt dich aufrecht, leb gefährlich. / Zeig dich offen, immer ehrlich. / Nimm das Leben nicht so schwer, / und sei für andere da.«

Natürlich erfahren Antons Freunde, wie es finanziell bei ihm aussieht. Bekommt er noch seine Heelys? Das sei hier nicht verraten. Die Grenzen des individuell Machbaren geraten jedenfalls allen Beteiligten ins Bewusstsein. Ist ja auch im Proletariat nichts Ungewöhnliches.

Nächste Vorstellungen am 20., 30. und 31. Januar

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