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Ein verkannter Traumjob
Jens Drahonovsky ist Landarzt in der Lausitz - und trotzdem ist er glücklich. Wie geht das?
Die Grippewelle rollt noch nicht. Es ist einer jener Tage in der Praxis von Jens Drahonovsky, an denen kurz nach Mittag niemand mehr im Wartezimmer sitzt. Vier Dutzend Patienten hat er an diesem Vormittag verarztet: ein hartnäckiger Husten hier, Schmerzen in Rücken oder Magen da; mancher brauchte auch nur ein Rezept. Jetzt stehen noch ein paar Hausbesuche und ein Termin beim Steuerberater an, dann ist Feierabend. Ein Arbeitstag zum Genießen. Sind die Grippeviren erst in der Lausitz angekommen, ist Schluss mit lustig: Dann »stehen die Leute hier die Treppe runter«.
Jens Drahonovsky ist Landarzt. Seine Praxis liegt in der gut 5000 Einwohner zählenden Kleinstadt Rothenburg, in deren Umgebung Sachsen sehr ländlich ist. Die Region an Neiße und polnischer Grenze lebt vorwiegend von Landwirtschaft und Tourismus. Einer der wenigen Industriebetriebe der Region, der Waggonbau Niesky, hat kürzlich Insolvenz angemeldet.
Es ist eine Gegend, aus der junge Leute wegziehen und nur zu Besuch wiederkommen. Zurück bleiben die Älteren - und viele Probleme, wie sie auch im Freistaat für »strukturschwache« Regionen jenseits der Großstädte und ihrer Speckgürtel typisch sind. Busse fahren selten, das Internet ist lahm. Doch immerhin: Einen Allgemeinarzt gibt es in Rothenburg. Und zwar einen, der weder alt ist noch unzufrieden. Er habe »einen Traumjob«, sagt Drahonovsky, der bald 45 wird: »Es ist eine sehr dankbare Arbeit.«
Viele seiner Kollegen klingen anders. Kürzlich sorgte ein Landarzt aus dem Süden der Lausitz für mediales Aufsehen, als er ankündigte, seine Zulassung öffentlich zu verbrennen - aus Protest gegen ausufernde Bürokratie und finanzielle Zwänge. Ähnliche Töne waren kurz darauf im Lokalblatt auch von einem anderen Landarzt aus der Region zu lesen, der aus Fürsorge für seine Patienten dennoch mit derlei Widrigkeiten kämpft, obwohl er längst im Rentenalter ist. Immerhin: Es besteht Aussicht, dass er bald durch einen Nachfolger abgelöst wird, der nur noch sein Studium abschließen muss. Viele andere Praxen auf dem Land verwaisen, weil keiner sie übernehmen will.
Drahonovskys Mutter hätte es ähnlich gehen können. Sie hatte die Praxis in Rothenburg viele Jahre lang geführt, und ihr Arbeitsalltag war nicht dazu geeignet, ihren Sohn als Nachfolger zu gewinnen. Wegen zahlloser Hausbesuche war sie »praktisch nie zu Hause«, sagt er und fügt an, er habe »um Gottes Willen nicht Arzt« werden wollen.
Also machte der junge Mann, der gern an alten Autos schraubte, eine Lehre im Waggonbau Niesky. 1989 freilich ging es erst mit der DDR zu Ende und dann mit dem Betrieb bergab. Drahonovsky leistete Zivildienst in einem Krankenhaus - und kam auf den Geschmack. Er absolvierte den Zugangstest für ein Medizinstudium, wurde genommen und landete in Leipzig. »Das Studium war gar nicht schlecht«, sagt er. Die Stadt auch nicht: Kultur, Kinos, Kneipen - dort hätte man bleiben können.
Viele seiner Kommilitonen haben sich so entschieden. Sie arbeiten im Krankenhaus und verdienen sehr anständiges Geld, das in der teuren Großstadt freilich nur für »eines dieser Schachtelhäuser« reiche. Die Familie sehen sie selten, weil Dienste ohne Ende zu leisten sind. Die Patienten, sagt Drahonovsky aus eigener Erfahrung, würden in Krankenhäusern oft nur als »Fälle« gesehen, deren Problemen mit dem Arsenal moderner Apparatemedizin zu Leibe gerückt wird: MRT, CT, Herzecho. Was ihnen wirklich auf dem Herzen liegt, erfährt der Arzt oft nicht.
Drahonovsky kann in seiner Praxis kein CT anfertigen; er hat nicht einmal ein Ultraschallgerät. Es gibt nur ein Stethoskop, ein Blutdruckmessgerät und einen Arzt, der sich Zeit fürs Zuhören nimmt. Einen, der zudem gern auf Hausbesuche fährt - mit einem der alten Autos, für die er noch immer schwärmt. Jetzt, im Winter, ist es ein 27 Jahre alter, knallroter Golf II. Bei den Visiten sieht er, wie seine Patienten leben, und lernt über die Ursache einer Krankheit ebenso viel wie aus Blutwerten. Manchmal, sagt er, schmerzt einem alten Menschen etwa der Magen; wenn er nachfragt, stellt sich heraus, dass die Schwiegertochter ausgezogen ist. Es beginnt oft im Körper zu klemmen, wenn eine Last auf die Seele drückt.
Vielleicht hat Drahonovsky ein besonderes Gespür für solche Zusammenhänge, weil er nach dem Studium zunächst zur Psychiatrie wechseln wollte. Ein Kollege riet ihm indes ab: auf Dauer nicht abwechslungsreich genug. Ein Praxisjahr stand trotzdem an; er entschloss sich, es bei seiner Mutter in der Lausitz zu absolvieren. Auf dem Land, wo eigentlich kaum jemand hin will. Ein Versuch, sagt er: »Ich hätte ja auch nach zwei oder drei Monaten wieder gehen können.« Er ging nicht, übernahm vor elf Jahren die Praxis und hat das seither nicht bereut. »An keinem einzigen Tag«, wie er sagt.
Um nicht missverstanden zu werden: Wenn Drahonovsky von »Traumjob« redet, meint er nicht: viel Kohle, kein Schweiß. Als Landarzt in Ostsachsen verarztet er 1400 Patienten im Quartal und fährt zu 200 Hausbesuchen, teils in Dörfer, die 25 Kilometer entfernt liegen. Die Arbeitswoche, sagt er, hat zwar keine 60, aber auch keine 35 Stunden. »Man muss sich schon gut organisieren.« Wenn er freilich Feierabend hat, muss er, anders als in Leipzig, nicht dreimal ums Karree fahren, um einen Parkplatz zu finden. Er stellt seinen Golf auch nicht neben ein »Schachtelhaus«, sondern hinter das einst bedeutendste Wirtshaus in seinem Heimatort Horka. Trotzdem musste er keine halbe Million auf den Tisch blättern, um es zu kaufen, sondern nur ein paar Tausender.
Dass viel Geld und Arbeit in die Sanierung floss - zugegeben. Dafür gibt es ausreichend Platz für drei Kinder und später vielleicht auch für Tiere. Eine Armada alter Autos, vom Uralt-Mercedes aus Studienzeiten bis zu einem Wohnmobil, hat er schon jetzt untergebracht: im früheren Tanzsaal, in dem er einst nicht nur zur Disco ging, sondern auch beim Schulsport schwitzte. Im Kneipenraum haben Drahonovsky und seine Frau ein Geschäft eingerichtet, in dem es alles Lebensnotwendige von Brot und Gemüse bis zu Zahnpasta und Klopapier gibt, außerdem Kaffee, Frühstück und jeden Tag ein frisch gekochtes Mittagessen. Nachbarn können sich hier treffen und Vorbeifahrende einkehren. Der Name ist Programm: »einLaden«, steht in geschwungenen Lettern über der Tür.
Ob das Konzept aufgeht, ob der Laden sich rechnet - er wird sehen. Aber immerhin: Es gibt die Möglichkeit, es zu probieren. Das ist ein Stück dessen, was Drahonovsky am Leben als Landarzt schätzt. Ein Zeitungsporträt über ihn war überschrieben: »Der Doktor und die große Freiheit«.
Fragt sich nur, warum sein Beispiel nicht Schule macht. Warum Praxen verwaisen und die Werbung aus der Politik um Nachwuchs nur sehr mäßigen Erfolg zeigt. Warum Absolventen in Krankenhäuser drängen, in denen die Hierarchie streng und Freiheit ein Fremdwort ist. Drahonovsky zuckt die Schultern. Liegt es daran, dass zu oft nur über Schattenseiten berichtet wird, über die Klagen der Kollegen und das Korsett aus Bürokratie und engem Budget? Womöglich sei ja das »Bild des Landarztes vermasselt« worden, sagt Drahonovsky. Vielleicht könnte das schiefe Image durch eigene Anschauung korrigiert werden.
Wie, so fragt er, wäre es, wenn jeder Arzt verpflichtet würde, im Laufe seiner Aus- oder Weiterbildung ein Jahr in einer Praxis auf dem Land zu verbringen, so wie er selbst es in Südafrika erlebt hat? Der eine oder die andere würde sicher hängen bleiben. Er oder sie würde feststellen, dass es sich um »dankbare Arbeit« handelt, um einen »coolen Job«, wie Drahonovsky sagt. Die Hipster in den Städten hätten das nur noch nicht mitgekriegt.
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