Überfrachtet mit Außenwelt

Ole Anders Tandberg inszenierte Georges Bizets »Carmen« in der Deutschen Oper Berlin

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Drei Akte hat die Oper, und in jedem dreht es. Mal langsam, mal schneller. Ein Karussell der Bauten und Gefühle. Sehr sinnfällig steht das Bühnenbild in der Deutschen Oper Berlin hierzu. Es erzeugt den Schwindel, der nötig ist, um dieses Werk beherzt auf die Bühne zu bringen. Im doppelten Sinne. Zum einen dreht die Bühne wie der neugierige Spiegel, der wissen will, was vor und hinter ihm passiert, zum anderen nimmt das Widerspiel der Liebe kreisend seinen Lauf.

Die Vorderseite ist der Rückseite komplementär. Vorn reckt sich eine Tribüne mit Geländern und Treppen auf. Hier singen Carmen und José anfangs ihre geheimen Arien, später etwa auch Chöre mit dampfendem Fleisch in den Händen. Grau in Grau ist diese Auftürmung. Sonnenstrahlen kennt sie nicht. Dreht sie sich erstmals dem Publikum zu, sitzt Carmen in erotisch aufreizend roter Faltenkluft, die Beine übergeschlagen, frech da und raucht wie die Männer am Spieltisch Zigarre. Neben ihr, an den Hinterbeinen aufgehängt, ein lebensgroßer blutender Stier.

Rückseitig begegnet uns eine kahle dunkle Wand, sie stützt den Bau (Bühne: Erlend Birkeland). Nirgends Idylle. Soldaten in Stiefeln und Kaki-Anzügen, mit Helmen und MPis erscheinen johlend. Weiber sind ihnen Freiwild. Als Micaëla kommt, um José die Nachricht der Mutter zu überbringen, pflanzen die pöbelnden Burschen ihre MPis so vors Gemächt, als wollten sie sie aufspießen. Schweinskram? Der potenziert sich noch.

Was ist »Carmen«? Und wer diese Frau? Erstens: Prosper Mérimées Novelle hat sie berühmt gemacht, und noch berühmter wurde sie durch Georges Bizets Oper. Was Haut, Lippen, Haare der Carmen ausmacht, glüht schon in der Ouvertüre. Sie ist, wie Mozart-Arien, Popmusik. Jedermann kennt sie, wenn vielleicht auch nur in Bruchstücken und elektronisch eingefärbt. Die Arien der Oper übertreffen sich an Gefühligkeit und Leidenschaft. Donnernde Dramatik hat das Stück. Auch einen Volkscharakter, der mit fröhlichem Soldatentum, neckischen Liebeleien und Crime in der Spielhölle einhergeht. Für jedermann etwas.

Zweitens: »Carmen« ist so beliebt, weil ihre Macher diese Oper lieben. Und die lieben sie, weil die Masse sie liebt. Ihr Funke scheint unauslöschlich. Carmen singt zu José: »Wenn ich dich liebe, bist du erledigt.« Das hat die verwegensten Fantasien wachgerufen. Unzählige Male ist »Carmen« inszeniert worden. Die Oper braucht keinen Anlass, um zu erscheinen. Sie wirkt schlechthin, und es schwindeln dem die Gefühle, der Neuproduktionen der größten Könnerinnen und Könner beiwohnen kann.

»Carmen« ist, drittens, vielfach gedeutet und umgedeutet worden, nicht selten im Zeichen einer Femme fatale, willens, sich von der brutalen Männerwelt zu emanzipieren. Selbst Escamillo, der gefeierte Stierkämpfer, dem sie sich an den Hals wirft, muss bisweilen dran glauben. Feministische Carmen-Typen perlten über die Bühne, kriminelle, vom Reichtum besessene, solche, die zu Recht unters Messer des ehrlich liebenden José kommen ...

Eines der berühmten Symbole in dem gleichnamigen Film von Carlos Saura: Carmen stößt im Bett, glühend vor Rachsucht und Leidenschaft, José mit den Füßen brutal vor die Brust. Der fällt zurück, als stürbe er. Während Saura aus der Geschichte einen Tanzfilm extrahiert, in dem der alternde Choreograf Carmen als seine eigene Geliebte erfährt und während der Proben zum Mörder an ihr wird, geht Jean-Luc Godard noch weiter. In seinem Film »Vorname Carmen« (1983) ist er der Onkel der Protagonistin und mit ihr Teil einer Filmcrew, trachtend, einen Industriellen in einem Spielcasino zu entführen. Unter Klängen des Beethoven’schen »Harfenquartetts« und unter Meeresrauschen gibt es die wildesten Schießereien, bei denen viel Blut fließt. Das Foyer des Hotels »Continental«, wo die Aktion stattfindet, ist ein Leichenfeld.

Darunter wollte der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg, gefragt im Schauspiel- und Opernbetrieb, in seiner Berliner Inszenierung offenbar nicht bleiben. Tandberg, geboren 1959, macht alles selbst. Er inszeniert, entwirft Bühnenbilder und Kostüme, er choreografiert auch, schreibt selber poetische Texte und liest fleißig Partituren überwiegend klassischer Art. Kurzum: ein Regisseur aus dem Bilderbuch. Das Merkwürdige: Die Schauspielarbeiten überwiegen bei ihm. Wedekinds »Lulu« auf die Sprechbühne zu bringen, scheint ihm gebotener als Alban Bergs gleichnamiges Werk auf die Musikbühne. Aber vielleicht darf der Satz gelten: Je literaturfremder die Oper, je weniger Realwelt sie abbildet, desto genauer blickt sie der Welt entgegen und entreißt ihr die Schleier.

Tandberg, der wahrlich musikalische Kräfte zur Verfügung hatte, die große Oper erschufen, macht das Gegenteil. Er überfrachtet seine Inszenierung mit Außenwelt. Selbst Damen des Chores, wohlstrukturiert auf die Tribüne gestellt, rüstet er mit Maschinenpistolen aus. Fleischeslust ist ja etwas Schönes, aber mit Fleisch um sich zu werfen, wie das Kresnik und Castorf an der Volksbühne aufs Ekelhafteste vorgemacht haben, dem toten Stier Hoden und Penis abzuschneiden, um sie als Trophäe der jubelnden wie zerknirschten Chormenge vorzusetzen, und andere unappetitliche Dinge, das will gar nicht schmecken. Einzelheiten auszubreiten, erübrigt sich.

Trotzdem war bedeutendes Musiktheater zu erleben. Allein die sängerischen Leistungen der frech in die Bilder gehenden, couragierten Clémentine Margaine (Carmen) mit ihren beiden im selben Rot gekleideten Freundinnen (Nicole Haslett, Jana Kurucová), jener José vergeblich aufs Innigste liebenden Micaëla (Heidi Stober), des elegant scheinenden, vom Volke verhimmelten, gleichwohl blödianisch auftrumpfenden Escamillo (Markus Brück), nicht zuletzt des polizeilich gehetzten, seine kriminellen wie erotischen Energien kraftvoll ausagierenden José (Charles Castronovo) sind vorbildlich zu nennen. Obendrein, was Dirigent Ivan Repušić mit dem Orchester und den Chören der Deutschen Oper zuwege brachte, nämlich eine glänzende, technisch und gestalterisch hervorragende Vorstellung.

Nächste Vorstellungen: am 4. und 10. Februar

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