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Sterben ohne Retter
Italienische Behörden und libysche Küstenwache gehen mit rabiaten Methoden gegen Flüchtlingshelfer vor - das Ertrinken geht derweil weiter
Auf dem Deck des Schiffes »MS Aquarius« der Rettungsorganisation »SOS Méditerranée« wird eine Schweigeminute abgehalten. Die Crew hat sich in einer Reihe aufgestellt, die Hände sind ineinandergefaltet, die Blicke gesenkt. Im Dunkeln bringen vier Helfer die Tragen mit den Leichen auf das italienische Festland. Zwei Frauen sind es diesmal, eingepackt in weiße Planen. Sie hinterlassen ein vier Monate altes Baby und einen vierjährigen Jungen.
Das letzte Januarwochenende war für die Rettungsorganisation doppelt verheerend. Zuerst wurde man von der Seenotleitstelle in Rom zu einem Einsatz gerufen, doch als man ankam, war die libysche Küstenwache bereits da. »SOS Méditerranée« musste wieder abdrehen, die zwei Schlauchboote wurden offenbar in das Bürgerkriegsland zurückgebracht. Im Anschluss ein weiterer Notruf: Als man den Zielort erreichte, trieben die Menschen schon im Meer. »Ich habe zwei Babys aus dem Wasser gezogen, die buchstäblich unter der Oberfläche schwammen. Noch auf dem Beiboot habe ich ihnen eine Herzmassage gegeben«, berichtet der Freiwillige Edouard Courcelle. 98 Menschen konnten gerettet werden, nach Schätzungen der UN ertranken 35 bis 40.
»Die Hauptprobleme sind im Griff«, sagte derweil Innenminister Thomas de Maizière (CDU) mit Blick auf die sinkenden Asylzahlen Mitte Januar. »Der Bundesinnenminister ist zufrieden, die Lage in der Flüchtlingskrise hat sich weiter entspannt«, stimmte ihm der »Spiegel« zu. Tatsächlich erreichten in den ersten beiden Januarwochen 74 Prozent weniger Schutzsuchende als im Vorjahreszeitraum die italienische Küste. Doch der Schein trügt. Hunderttausende Flüchtlinge und Migranten stecken nach wie vor in Libyen fest. Die EU scheint zufrieden zu sein. Unter deutscher Fürsprache wurde bei einem Treffen in Sofia Ende des vergangenen Monats beschlossen, von einer ausgewogenen Verteilung der Geflüchteten Abstand zu nehmen. Die im Februar von der EU-Grenzschutzagentur Frontex gestartete Mittelmeer-Mission »Themis« sorgt zudem für einen Paradigmenwechsel. Verpflichtete sich die EU bisher, gerettete Flüchtlinge nach Italien zu bringen, wird die Entscheidung über den Zielhafen nun der verantwortlichen Seenotleitstelle überlassen. Sobald diese in Tripolis einsatzbereit ist, können fortan auch EU-Schiffe die Schutzsuchenden in Libyen entlassen. Einem Land, in dessen Lagern nach Aussage des Auswärtigen Amtes »KZ-ähnliche« Zustände herrschen.
Das von Kritikern als »Festung Europa« bezeichnete Grenzsystem scheint zu halten, doch zu einem hohen Preis. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration sind alleine in diesem Jahr über 200 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken. Von ehemals zwölf Schiffen ziviler Rettungsorganisationen sind kaum noch drei im Einsatz. Die von der EU geförderte libysche Küstenwache hat die Schiffe von Rettern bereits mehrere Male beschossen und bedroht diese immer wieder.
Doch auch die von EU-Politikern und Frontex erhobenen Vorwürfe der Schlepperei versetzten der Seenotrettung einen schweren Schlag. Spenden für Hilfsorganisationen seien seit Monaten rückläufig, berichtete die römische Tageszeitung »La Repubblica«. »Es gibt kein Geld mehr, um die Rettungsaktionen zu finanzieren«, so Regina Catrambone, Gründerin der Organisation MOAS.
Im Zentrum der Anschuldigungen stand vor allem der Verein »Jugend rettet« aus Berlin, ein Team mit rund zehn Mitgliedern. Nach eigener Aussage hatte man über 14 000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Im vergangenen August beschlagnahmten italienische Behörden jedoch die »Iuventa«, das Schiff der Initiative. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen die Hilfsorganisation wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Schleppern, hat aber weder gegen den Verein noch gegen einzelne Personen bis heute Anklage erhoben. Das Team versucht, sich zu verteidigen. »Es ist zermürbend, sich gegen haltlose Vorwürfe zu wehren, während draußen auf dem Meer Menschen sterben und man eigentlich ein Schiff hätte, um ihnen zu helfen«, sagt »Jugend rettet«-Mitarbeiterin Isa Grahn dem »nd«. »Aus unserer Sicht war die Beschlagnahmung Teil einer politischen Maßnahme.« Das Schiff sollte handlungsunfähig gemacht, Migrationsströme sollten beeinflusst werden. Warum gerade sie? »Wir als kleine Organisation sind anders aufgestellt als beispielsweise ›Ärzte ohne Grenzen‹, die mit einer Beschlagnahmung anders hätten umgehen können.«
Eine aktuelle Recherche des Medienprojektes »Jib-Kollektiv« hatte das Vorgehen der italienischen Behörden gegen die »Iuventa« nachgezeichnet und sich dabei auch auf bisher nicht veröffentlichtes Material berufen. Nach der Dokumentation musste etwa die Hilfsorganisation im Mai 2017 auf Befehl der dem Innenministerium unterstellten Seenotleitstelle in Rom fünf Flüchtlinge nach Lampedusa bringen, obwohl sich zu dem Zeitpunkt noch 14 Flüchtlingsboote in Seenot befanden. Im Hafen wurde man von der Polizei für Verhöre empfangen. Beamte brachten bei einer Durchsuchung des Schiffes Abhörwanzen an und überwachten fortan auch die Telefone von Crew-Mitgliedern.
In den nächsten Monaten wiederholte sich der Vorgang: Inmitten von Einsätzen schickte die Seenotleitstelle die »Iuventa« nach Lampedusa, wo Polizisten Gespräche führen wollten. In den Befragungen sei es unter anderem um einen angeblichen Kontakt zu einem Schiff gegangen, das in Waffenschmuggel verwickelt gewesen sein soll. Beweise gab es keine. Im Juni kam es dann zu einem chaotischen Einsatz, bei dem sich laut »Jugend rettet« auch noch libysche Fischer näherten, um den Flüchtlingsbooten die Motoren abzunehmen. Die Italiener präsentierten Fotos der Situation als vermeintlichen Beweis für eine Zusammenarbeit mit Schleppern, die Hilfsorganisation widersprach. Im Juli forderte Rom schließlich alle im Mittelmeer tätigen NGOs auf, einen Verhaltenskodex zu unterschreiben, den der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages als völkerrechtswidrig einstufte. »Wir haben den Kodex nicht unterschrieben, er hätte eine Gefahr für die Flüchtlingsrettung dargestellt«, sagt Grahn. Am 1. August lief die Frist für die Unterzeichnung aus, am 2. August wurde die »Iuventa« festgesetzt. Die Journalisten des »Jib-Kollektivs« bezeichnen das Behördenvorgehen als »politisch motivierte Verfolgung«.
Im vergangenen halben Jahr hat sich das Team von »Jugend rettet« von den Kämpfen erholt und neu aufgestellt. »Wir sind alle sehr jung und hatten wenig Erfahrung mit so etwas«, sagt Grahn. Auch die Stimmung in Deutschland habe sich im vergangenen Jahr verschlechtert. »Das zahlreiche rechte Gedankengut, das uns in Mails erreichte, hat uns schockiert.« Es nütze jedoch nichts - das Sterben im Mittelmeer müsse immer wieder thematisiert werden, damit der öffentliche Blick nicht verloren geht, so die Freiwillige. Nun warte man gespannt auf den 23. April, an dem das oberste italienische Gericht über die Beschlagnahmung der »Iuventa« entscheiden will.
Wenn »Jugend rettet« sein Schiff zurückbekommt, werde der Verein diskutieren, wie es weitergeht, sagt Grahn. »Prinzipiell gilt für uns: Solange die Notwendigkeit da ist und die Sicherheit unseres Team gewährleistet, würden wir immer wieder rausfahren.«
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