- Politik
- Algerienkrieg
Wer tötete Maurice Audin?
Vor mehr als 60 Jahren verschwand der Kommunist in Algerien / Neue Aussage legt nahe, dass er von französischen Militärs ermordet wurde
Den Anstoß hat ein Interview gegeben, das die kommunistische Zeitung »L’Humanité« Ende Januar mit Cédric Villani geführt hat. Der renommierte Mathematiker, Träger der Field-Medaille - eine Art Nobelpreis für Mathematik - ist Abgeordneter der Nationalversammlung für die von Emmanuel Macron gegründete Bewegung La République en marche (LREM). In dem Gespräch kam im Zusammenhang mit der Frage, was den Mathematiker bewogen hat, sich in der Politik zu engagieren, die Rede auch auf Maurice Audin.
Der war ebenfalls Mathematiker und hat während des Algerien-Kriegs als Kommunist den Kampf der Befreiungsbewegung FLN unterstützt. Am 11. Juni 1957 wurde der Dozent der Universität Algier durch die Armee verhaftet. Seitdem ist er verschollen. Die Historiker sind überzeugt, dass Audin - wie viele algerische Befreiungskämpfer und auch französische Sympathisanten - von Militärs gefoltert und ermordet wurde. Alle Bemühungen der Witwe und der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) sowie der Behörden des seit 1962 unabhängigen Algeriens, sein Schicksal aufzuklären, waren bisher jedoch vergebens. Auch in den französischen Militärarchiven, die Präsident François Hollande für die Witwe zumindest teilweise öffnen ließ, fand sich keine Spur.
Cédric Villani, der sich seit Jahren für das Schicksal von Audin interessiert und seine Witwe kennt, brachte in dem genannten Interview die Überzeugung zum Ausdruck, dass es dringend geboten sei, »die Verantwortung des französischen Staates für die Ermordung Audins offiziell anzuerkennen«, zumal aufgrund zahlloser Zeugenaussagen und Dokumente inzwischen an der »Generalisierung der Folter« durch das Militär während des Algerien-Krieges kein Zweifel mehr besteht.
Wenige Tage nach dem Interview erhielt die Redaktion der »L’Humanité« den Brief eines Lesers, der erklärte: »Ich glaube, dass ich die Leiche von Maurice Audin vergraben habe.« Der heute 82-jährige Jacques Jubier, den die Zeitung daraufhin zu einem Gespräch einlud, das die »L’Humanité« am vergangenen Mittwoch druckte, war einer von insgesamt zwei Millionen Wehrpflichtigen, die während des Kolonialkrieges in Algerien eingesetzt waren.
Jubier wurde als 21-jähriger Wehrpflichtiger im Dezember 1955 nach Algerien geschickt. Im Sommer 1957 war er Gefreiter und gehörte zum Bewachungskommando eines Lagers für algerische Gefangene in der Kleinstadt Khemis El Khechna, 30 Kilometer östlich von Algier. Er zeigt Fotos des Lagers, auf denen Zelte und leichte Holzhütten zu sehen sind und etwas abseits davon ein kleines Gebäude aus Beton. »Dort wurden die Algerier gefoltert«, sagt Jubier. »Dafür wurden unter uns Freiwillige gesucht. Manche ließen sich nicht lange bitten. Ich habe das immer abgelehnt und mein Hauptmann hat nicht darauf bestanden.«
Aber unfreiwillig wurde er seiner Darstellung zufolge Zeuge der Verbrechen. »Von den Verhören kam keiner der Gefangenen lebend zurück«, erinnert er sich. »Sie wurden in Massengräbern verscharrt, die die anderen Gefangenen ausheben mussten.« Es gelang Jubier, sich versetzen zu lasen. Er wurde einer Transporteinheit zugeteilt, in der er einen Lastwagen fuhr. Eines Tages sei dort ein Militär aufgetaucht und habe ihn zu einem ›geheimen Sondereinsatz‹ abgeholt. Er habe sich nicht vorgestellt, aber Jubier habe später erfahren, dass es sich um Gérard Garcet handelte, auf den später seine Vorgesetzten die Schuld am Tod von Maurice Audin abgeschoben haben.
Die Fahrt ging zu einem einsam gelegenen Bauernhof. »Dort führte er mich in einen Raum, wo in Tücher gewickelt zwei Leichen lagen. Ihre Gesichter, die Hände und die Füße waren schwarz und verkohlt. Wie der Fallschirmjäger mir erklärte, hatte man diese Körperteile mit einem Schweißbrenner verbrannt, damit sie nicht mehr zu identifizieren waren«, so Jubier. Er erinnert sich, dass der Fallschirmjäger gesagt habe, einer der Toten sei der Bruder von Ben Bella, dem Mitbegründer der FLN, und der andere »ein Kommunistenschwein« - und dass die Leichen verschwinden müssten. Mit dem Lkw seien dann die Leichen zu einem Ort in der Nähe gebracht worden, wo bereits ein Loch von vier algerischen Gefangenen gegraben worden war, die daneben bewacht von Soldaten standen, die Augen verbunden und die Hände auf dem Rücken gefesselt. »Ich musste die zwei Leichen vom Lkw holen, in die Grube werfen und diese zuschaufeln. Dann hat mir der Fallschirmjäger gedankt, mich aber zugleich gewarnt, niemandem etwas zu erzählen. Andernfalls würde es mir und meiner Familie schlecht ergehen«, so Jubier weiter. Und tatsächlich hat der Gefreite all die Jahrzehnte niemandem etwas erzählt, vergessen hat er aber nicht. Heute habe er keine Angst mehr vor der Rache der Militärs und wolle dazu beitragen, die Wahrheit über den Mord an Maurice Audin aufzuklären.
Für Historiker, wie den auf den Algerienkrieg spezialisierten Benjamin Stora sind seine Erinnerungen »wertvolle neue Teile in einem Puzzle, das noch nicht endgültige Form angenommen hat«. Nach wie vor werde nach Dokumenten gesucht, die den endgültigen Beweis bringen, wer Audin wann und wo ermordet hat. Um die Suche danach neu zu beleben, haben jetzt die Witwe Josette Audin sowie die Abgeordneten Sébastien Jumel (PCF) und Cédric Villani (LREM) gemeinsam die Einsetzung einer Parlamentarischen Untersuchungskommission gefordert.
Sie berufen sich dabei auf die Zusage von Emmanuel Macron, der der Witwe gegenüber versichert hat: »Der Staat wird nicht länger auf seiner Darstellung bestehen. Alle Dokumente werden offengelegt, auch die, die bisher verschlossen geblieben sind.« Bei einem Besuch in Algerien im Februar 2017 hatte der Präsidentschaftskandidat erklärt, Frankreich müsse seiner Kolonialvergangenheit und den in diesem Zusammenhang verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ins Auge blicken. Nun kann er sein Wort einlösen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.