Traumwanderung im Huangshan

Ein Bildband aus DDR-Zeiten macht neugierig auf das Märchengebirge.

  • Rolf Junghanns
  • Lesedauer: 6 Min.
Buchhandlungen in der DDR überraschten 1983 mit Publikationen chinesischer Verlage - einer der Schritte der DDR-Führung zum Auftauen der Beziehungen zu China. Ein dünner Bildband in Englisch über das Huang᠆shan-Gebirge nahm mich gefangen. Eine Berglandschaft, wie sie exotischer nicht sein kann: Aus einem Wolkenmeer ragen Felsnadeln und seltsam gezackte Berggrate steil auf. Wasserfälle stürzen zu Tal, aus dem Fels herausgehauene Treppen winden sich an den Bergen entlang. Kaum Touristen, eine Landschaft voller Erhabenheit und Ruhe. Erreichbar ist das Gebirge damals für mich nur in Träumen. In einer viel späteren Epoche schlägt ein chinesischer Freund vor: »Lass uns im Huangshan wandern!«

Im Herbst 2017 brechen wir tatsächlich auf. Von Peking über Suzhou und Hangzhou geht es ins Huang᠆shan-Gebirge. Beim Besuch einer Veranstaltung in Huangshan-City erfahren wir vieles über die Geschichte und Legenden der Region - in einem Mix aus Gesang, Tanz, Akrobatik und traditioneller Oper. Eine Episode zeigt, dass die Hui, die Einwohner der Huangshan-Region, früher ihrer Armut nur durch Handel in anderen Landesteilen entfliehen konnten, fernab ihrer Familien. Die Armut stand im krassen Gegensatz zur Schönheit der Berge, die schon im 9. Jahrhundert der Dichter Li Bai beschrieb.

1979 verkündete Deng Xiao Ping, der dieses Stück Natur sehr bewunderte, eine Konzeption zur Tourismusentwicklung - detailliert bis zum täglichen Bettwäschewechsel. Ihm ging es dabei nicht nur um Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten für die Hui, seine Vision war der Tourismus als Milliardengeschäft für ganz China. Seine »Huangshan-Gespräche« wurden zur Initialzündung für Chinas moderne Tourismusindustrie. Das Bildbändchen, das ich 1983 gekauft hatte, folgte dieser Strategie.

Am Morgen nach dieser Einstimmung stößt der angeheuerte Bergführer zu uns - nur mit einer kleinen Umhängetasche und in Halbschuhen. Wir wundern uns sehr über die spartanische Ausrüstung - oder ist es gar ein Zeichen von Professionalität, je nach Umständen und Wetter nur das Nötigste mitzunehmen? Wir hätten großes Glück mit dem Wetter, erklärt er: Denn die Sonne strahle nur 90 Tage im Jahr.

Der Besuch des Huangshan-Gebirges kostet Eintritt. Und der ist gepfeffert! Eine Busfahrt über Serpentinen führt uns zu einer Seilbahn, von der aus man auf ein herrliches Bergpanorama blickt. Oben angekommen allerdings sieht die Realität ganz anders aus, als mein Bildband vermittelt - ein riesiger Touristenandrang statt beschaulicher Ruhe. 2016 sollen 2,5 Millionen Besucher in das Gebirge geströmt sein.

Unweit der Seilbahn steht die verkrümmte »Willkommenskiefer« - angeblich Chinas berühmtester Baum. Eine Tafel beschreibt ihn in Chinesisch und Englisch. Mein Schmalspurenglisch erschließt mir nicht alle Details aus Botanik und Mythologie, doch bin ich froh, durch die Erläuterungen mehr über die Bergwelt und ihre poetische Wahrnehmung durch die Chinesen zu erfahren.

Langsam wandern wir dahin, wollen uns nicht auspowern. Wir werden mit fantastischen Weitblicken belohnt, bewundern das Wolkenmeer, imposante Bäume und bizarre Felsgebilde mit Namen wie Affe, Schildkröten- oder Lotosblütenfels. Bei manchem steilen Anstieg wird die Luft knapp. Um den Blick von besonderen Aussichtspunkten genießen zu können, muss man viel Geduld mitbringen und dafür häufig sogar anstehen. Diese Plätze sind stets von »Selfisten« blockiert - was ist schon die Natur, wenn sie nicht selbst mit im Bild sind? Als Ausländer bemerke ich interessierte Blicke, auch Lächeln und Zuspruch gibt es: »Hen hao - toll, dass Sie hier wandern!« Mein Gruß »Ni hao!« löst Freude aus. »Oh! Ni hao hat er gesagt, der kann ja Chinesisch!«

Nach rund sechs Kilometern erreichen wir das Hotel »Bayun« (Weiße Wolke), wo wir übernachten werden. Ein einfaches Doppelzimmer inklusive warmer Jacke gegen unerwartete Kälte mit Abend- und Frühbüffet kostet 1580 Yuan (ca. 227 Euro). Alles andere als ein Schnäppchen!

Den Sonnenuntergang erleben wir am Lotus-Berg, und mit uns unzählige andere, fotografierend und filmend. Wir hoffen, dass es zum Sonnenaufgang weniger turbulent zugeht. Vergebens: Alles, was Beine hat, wartet schon lange vor sechs Uhr auf dem Aussichtspunkt mit Blick gen Osten auf Klärchen. Als die Sonne schließlich aufgeht, begrüßt sie vielhundertfaches freudiges »Oooh!«. Da ist viel Geschick gefragt, um auch aus eingekeilter Position zu einem brauchbaren Schnappschuss zu kommen.

Die Naturverbundenheit der Chinesen erklärt mir mein Freund mit der Prägung durch Literatur und Kunst - viele chinesische Dichter haben Naturereignisse beschrieben, die Darstellung in Malerei und Plastik ist der nicht wegzudenkende Kern der chinesischen Kunst. Eine Wanderung im Huangshan ist deshalb für viele Chinesen die Erfüllung eines großen Traums. Und so treffen wir in 1500 bis 1800 Meter Höhe nicht nur geübte Wanderer, sondern oftmals ganze Familie - auch Oma und Opa sind dabei, selbst wenn ihnen das Laufen schon schwer fällt. Wer nicht mehr so gut zu Fuß ist, kann sich in einer Sänfte über die steilen Stiegen tragen lassen.

Tage, wie der 9.9. sorgen für einen besonders großen Ansturm. Denn die Doppelneun prädestiniere zum Streben nach Höherem, wie zum Besteigen von Bergen, erklärt mir mein Freund. Viele Touristengruppen mit ihrem Bergführer sind deshalb unterwegs. Jeder Bergführer hat seine »Schallkanone«, mit deren Hilfe er brüllend auf die Sehenswürdigkeiten hinweist. Statt feinsinnige, poesieerfüllte Naturbetrachtung bestimmt Lautsprecherdröhnen das Geschehen.

Die Natur nimmt es hin und bietet auch am zweiten Tag Grandioses: Aus Hunderten Metern Tiefe ragen Felstürme steil empor, am Horizont reihen sich Bergketten schemenhaft hintereinander auf. Nach etwa fünf Kilometern erreichen wir die Liftstation »Baie Ling«, wo mein Freund verkündet: »Geschafft, jetzt fahren wir runter!« - Schock bei mir: 500 Kilometer sind wir zum Huangshan gefahren und nach zwei kurzen Halbtagstouren soll alles vorbei sein? Ich bohre: »Aufhören? Diese grandiose Natur bei diesem Sonnenschein - wann sehen wir sie wieder?« Er überlegt, befragt Handy und Bergführer. Dann lächelt er und sagt: »Wir steigen die sechs Kilometer ins Tal zu Fuß hinab.« Hurra, heraus aus dem Touristenknäuel, endlich richtig wandern! Beim Hinabsteigen scheinen die Gipfel über uns zu wachsen, ringsum sind steil abfallende Bergwände zu sehen, dicht bewachsen, herbstlich betupft. Immer wieder treffen wir auf Lastenträger. Ich sehe massige Ladungen an den Tragjochen: Lebensmittel, Baustoffe, Ausrüstungen, gefüllte Gasflaschen werden bergauf gewuchtet, Abfall, Leergut Verpackungen, Bauschutt, altes Mobiliar bergab. Die Stiegen sind steil. Manchem Träger ist anzusehen, wie schwer ihm jeder Schritt fällt. »Warum werden die Waren nicht mit den Seilbahnen befördert?«, frage ich einen der Träger. Er erklärt mir, dass der Lift nur für Touristen zugelassen ist. Pro Auf- oder Abstieg bekomme er 200 Yuan - knapp 30 Euro. Mein Freund meint, das sei ein guter Verdienst. Verstehen kann ich das dennoch nicht.

Unterwegs treffen wir österreichische Touristen. Einen frage ich lächelnd, ob er denn nun nie wieder in den Alpen wandern werde? Auf seinen verwunderten Blick hin sage ich das, was ich am Tag zuvor gehört habe: Wer einmal im Huangshan war, will in kein anderes Gebirge mehr!

Chinesisches Fremdenverkehrsamt:

Tel.: (069) 52 01 35,
www.china-tourism.de

Reiseliteratur:

Françoise Hauser, Volker Häring, »China - Erkundungen im Reich der Mitte«, Trescher Verlag Berlin, 19,95 €

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