• Berlin
  • Genderstudies für Erzieher

Von Regenbogenfamilien und Jungs, die gerne Kleider tragen

Broschüre soll Kita-Erzieher darin unterstützen, Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung zu thematisieren

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Vater lackiert sich die Fingernägel, der Sohn macht es ihm nach. Weil er zwei Schwestern hat, deren Röcke ihm gefallen, will er auch einen haben. In der Kita wird er dafür schief angeguckt, will die bunten Nägel nicht mehr und den Rock auch nicht. Die ältere Schwester ist laut und dominant, fragt aber plötzlich nach Glitzerschuhen und rosafarbenen Kleidern. Die Eltern finden rosa doof und wundern sich, wieso die Tochter jetzt »Mädchenfarben« tragen will. Hat sie das aus der Kita?

Das Jahr 2017 hat in Deutschland viele Neuerungen mit sich gebracht, was Themen wie Geschlechter- und Familienvielfalt betrifft: Gleichgeschlechtliche Paare dürfen heiraten und Kinder adoptieren (Transpaare aber noch nicht). Und das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, einen dritten Geschlechtseintrag zu schaffen. Zudem gibt es immer mehr »Regenbogenfamilien«. Dennoch gelten traditionelle Familienmodelle - Vater, Mutter, zwei Kinder - noch immer als Norm und werden als solche in Kinderbüchern und im Kita-Alltag weitergetragen.

Eine neue Broschüre soll Erzieherinnen und Erziehern in der Kita nun vermitteln, warum Geschlechter- und Familienvielfalt bereits in der frühkindlichen Erziehung eine Rolle spielen sollten. Herausgegeben haben die 140 Seiten starke Publikation das Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und die Bildungsinitiative Queerformat, die von der Senatsverwaltung für Bildung unterstützt wird. Dieser Umstand hat sowohl CDU als auch AfD auf den Plan gerufen: Die AfD diffamierte das Heft als »Sex-Broschüre«, die CDU sah sich gar bemüßigt, einen Antrag ins Abgeordnetenhaus einzubringen, die Verteilung und Verbreitung der Informationsbroschüre zu stoppen.

Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) verteidigte das Heft daraufhin am Donnerstag im Abgeordnetenhaus. »Ich finde es eine sehr, sehr qualifizierte Broschüre«, sagte sie. Erzieher müssten damit umgehen können, wenn beispielsweise ein Kind zwei Mütter habe oder ein Junge Mädchenkleidung tragen wolle. Sie müssten auch Eltern zu diesen Themen beraten können, sagte Scheeres. Dass Nachfrage bestehe, zeige sich auch daran, dass andere Bundesländer bereits nach der Broschüre gefragt hätten. Auch der Paritätische Wohlfahrtsdienst sieht die Heft als so wertvoll an, dass er auf eigene Kosten 1000 Exemplare nachdrucken möchte.

»Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben«, lautet der Titel. In der Einleitung heißt es, die Frage sei nicht, ob mit Kindern in der Kita über Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung gesprochen werden dürfe. Im Gegenteil ergebe sich »ein rechtlicher, fachlicher und politischer Auftrag« aus dem Berliner Kita-Fördergesetz, dem Berliner Bildungsprogramm und dem Parlamentsbeschluss »Berlin tritt ein für Selbststimmung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt«. Laut der Initiative Queerformat greift die Handreichung häufig gestellte Fragen auf, die von Kita-Fachkräften immer wieder geäußert werden.

Das Heft ist in drei Teile aufgeteilt. Zunächst wird in Grundlagentexten erklärt, warum das Thema für Kitas relevant ist. So heißt es zum Beispiel, dass etwa zehn Prozent aller Jugendlichen gleichgeschlechtliche Empfindungen haben. Etwa 16 Prozent gaben in einer Umfrage an, »schon immer« von ihrer Orientierung gewusst zu haben. Zwischen 20 000 und 200 000 Kinder wachsen in Regenbogenfamilien auf.

Im zweiten Teil geben die Autoren Praxishilfen und verweisen auf pädagogische Materialien oder auch Kinderbücher, die Themen wie Transgeschlechtlichkeit behandeln. Die Autoren regen beispielsweise Rollenspiele an, bei denen sich die Kinder die Rollen selbst aussuchen können. Sie geben auch Hilfen, wie Pädagogen auf Diskriminierungen reagieren können.

Die Broschüre ist derzeit vergriffen, jedoch online verfügbar bei www.queerformat.de. Kitas können darüber hinaus einen Medienkoffer zum Thema bestellen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -