Die Botschaft hör ich wohl

Andrea Ypsilanti ist überzeugt: »Und morgen regieren wir uns selbst«

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 6 Min.

Man muss diese Streitschrift einer engagierten linken Sozialdemokratin schon ganz bis zum Schluss lesen, um feststellen zu können: »Die Botschaft hör ich wohl - allein es fehlt der Glaube.«

In sieben Kapiteln mit einem aktuellen Postskriptum, der die enttäuschende Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl im Herbst vergangenen Jahres nach dem vorherigen rauschhaften Aufstieg des Phönix Martin Schulz reflektiert, entfaltet die Autorin - im Hinterkopf die Erfahrung einer hinterhältig erdolchten Alternative der rot-grünen Landesregierung in Hessen - ihre ungebrochene Vision, warum die SPD »morgen« regieren muss und wie es dazu kommen könnte. Ausgehend von der Frage, wie es der Neoliberalismus vermocht hat, das Denken der Menschen zu bestimmen, die Gesellschaft, ihre Individuen und ihre In-stitutionen zu okkupieren, entfaltet sie ein großes gesellschaftliches Panorama.

Die eine Seite des noch andauernden Siegeszugs des Neoliberalismus ist das Trauerspiel einer sich zerlegenden europäischen Sozialdemokratie. Auf der anderen Seite haben wir die - jedoch in sich zerrissenen - Parteien und Bewegungen Syriza und Podemos sowie den Labour-Politiker Jeremy Corbyn und den ausgebooteten US-Präsidentschaftskandidaten Bernard »Bernie« Sanders, die indes den Siegeszug des Neoliberalismus auch nicht ernsthaft stoppen konnten. Ypsilanti sucht nach Antworten darauf.

Folgerichtig behandelt sie eingangs einige Aspekte des neoliberalen Phänomens, die Krise der Sozialdemokratie und der demokratischen Linken generell und diskutiert sodann am Beispiel von Hessen eine gescheiterte »Versöhnung«. Sie befasst sich mit den neuen Protesten sowie - besonders aufschlussreich - der »Notwendigkeit einer radikalen Reformpolitik und einer grundlegenden Transformation«. Ihr richtiger Ausgangspunkt ist die tiefe Krise des Systems, woraus sie die Hoffnung schöpft, dass sich die Kräfte einer Transformation formieren, deren objektiv revolutionären Charakter sie betont.

Die Ideologie der herrschenden Klasse ist auch immer die herrschende Ideologie. Um diese zu ändern, findet man allerdings keine wirklich erfolgversprechende Antwort bei Albert Camus, wie sie in diesem Buch en passant angeboten wird. Ypsilanti zitiert auch den nicht so bekannten Autor Joachim Hirsch (»ABC der Alternativen«), der ihr wohl zusagt: »Reformismus deshalb, weil es nicht um die revolutionäre Machtergreifung und herrschaftlichen Zwang geht, sondern um schwierige und schrittweise Veränderungen, ›radikal‹, weil auf die gesellschaftlichen Beziehungen gezielt wird, die die herrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse hervorbringen.«

Eigentlich sollte klar sein, dass nicht irgendwelche »gesellschaftlichen Beziehungen« die »herrschenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse« hervorbringen, sondern »Besitzverhältnisse«, das heißt das Eigentum an Produktionsmitteln, das große Geld, kurzum privat-kapitalistische Produktionsverhältnisse. Alles, was Ypsilanti aufzählt, das notwendigerweise durch Reformen zu transformieren wäre - »gesellschaftliche Arbeitsteilung, Produktionsbeziehungen, Familien- und Geschlechterverhältnisse, Bewusstsein« -, erinnert sehr an die Frankfurter Schule. Es war damals und ist heute geistig anregend, reicht aber eben nicht aus. Zumindest sollte die »gesellschaftliche Arbeitsteilung« realistischer definiert werden. Denn den Kapitalismus wird man weder in Mecklenburg-Vorpommern noch in der Toscana mit Handwerkelei und selbst gekeltertem Rotwein, nicht mit »mittelmeerischen Denken« (Camus) überwinden können. Hier widerspiegelt sich eine Unsicherheit in der Bewertung der sich heute in völlig neuer Qualität und in zunehmend chaotischer Weise vollziehenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, der Rolle der marginalisierten industriellen Arbeiterklasse, der Individualisierung der Arbeits- und Lebensstile, der Bedürfnisstruktur und Bewusstseinsinhalte. Was übrigens fortlaufend und auch künftig millionenfache Migrationsströme produziert. Darauf nur mit einem linken politischen Kulturalismus zu antworten, bliebe höchst einseitig, verlagert die Kämpfe auf Nebenschauplätze.

Die im Kapitel »Die Suche nach der eigenen Melodie« unterbreiteten Überlegungen zur Formulierung eines neuen Programms der Linken sind ebenso anregend wie kritikwürdig. Ypsilantis Feststellung, dass sowohl die sozialdemokratischen wie die sozialistischen Parteien generell als auch die sozialen Bewegungen weder über eine Analyse der neoliberalen Globalisierung noch über eine übergreifende Perspektive verfügen, ist durchaus zutreffend. Dies aber auch dem Programm der Linkspartei vorzuwerfen und gegen Sarah Wagenknecht wegen derer angeblichen »Hommage« an den Ordoliberalismus und den »rheinischen Kapitalismus« zu polemisieren, geht fehl. Dahinter steckt ein Denkfehler.

Eine radikalsozialistische Linke muss zuallererst an die Interessen der am meisten betroffenen Schichten gerade auch des eigenen Landes anknüpfen. Und dazu gehört die immer noch vorhandene Erinnerung an den Sozialstaat des »rheinischen Kapitalismus«. Auch wenn man - weil eventuell schmerzhaft - nicht immer unbedingt daran erinnert werden will, dass das im Osten »krachend gescheiterte Regime« daran seinen Anteil hatte. Am Rande sei angemerkt, dass Verweise auf die DDR oder »Fehler« der SED wenig hilfreich sind, die Abgehängten und Prekarisierten, die man bislang gering schätzte, der AfD zu entziehen. Ypsilanti zitiert zwar Didier Eribon, folgt ihm jedoch inkonsequent. Der französische Philosoph ist sich sicher, »dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss«. Es ist der alte Drang, nicht nur die eine Klasse, sondern gleich die ganze Menschheit befreien zu wollen, über den sich schon Friedrich Engels lustig gemacht hatte.

Hingewiesen sei noch auf eine Lücke in der Antwort auf die Frage, warum die Sozialdemokratie dabei ist, sich zu »pulverisieren«, und was notwendig wäre, um sie neu zu beleben. Ganz einfach: Nötig wäre das Eingeständnis, dass eine echte Neubesinnung mit dem gegenwärtig dominierenden Personal nicht möglich sein wird. Der Geschichte studierende Sohn der Verfasserin, dem sie explizit für seine Unterstützung dankt, hätte hier helfen können, wenn er seine Mutter auf die Entstehung und den letztlichen Triumph der Bürokratie in der deutschen Sozialdemokratie aufmerksam gemacht hätte, die zum Verlust sozialdemokratischer Identität und Programmatik führte. (Oder lernt man das heute nicht mehr im Geschichtsstudium?) Die Suprematie von beamteten Genossen schließt aus, dass die SPD zum Kern und Motor einer neuen linken Sammlungsbewegung für eine radikal-demokratische, radikal-soziale Transformation der Gesellschaft werden kann.

Der »nd«-Leser hatte die Möglichkeit, einen Abschnitt aus dem vierten Kapitel dieses Buches zu lesen (siehe 19. Februar, S.10). Darin wird er eventuell eine bedauerliche Fehlstelle bemerkt haben: In der Konfrontation mit dem Rechtspopulismus wird kein wirkliches Alleinstellungsmerkmal beim Nachdenken über ein neues Programm und eine neue linke Politik definiert. Zwar erinnert Ypsilanti an Willy Brandt. Ganz entscheidender Grund für dessen grandiosen Wahlerfolg 1972 waren seine Neue Ostpolitik und »Wandel durch Annäherung«. Ein solches, aktualisiertes Erfolgskonzept wäre wieder nötig. Wie wäre es also, wenn sich die SPD Forderungen nach Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland, Annäherung an Russland sowie nach einem kollektiven europäischen Sicherheitssystem zu eigen machen würde, wie auch die schon von Helmut Schmidt geäußerte nach einer Befreiung Europas aus der »Geiselhaft« des US-Militärkomplexes?

Ypsilantis Buch ist ein anregender Beitrag für die Suche der sozialistischen Linken nach einer die Massen mobilisierenden Alternative zum herrschenden System. Historisch-materialistische Analyse und realistische Strategie und Taktik, verbunden mit einem Schuss Utopie, könnten der Sozialdemokratie wieder auf die Beine helfen.

Andrea Ypsilanti: Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift. Westend, 247 S., geb., 18 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.