»Rädchen im Getriebe der Welt«

Sayaka Murata über eine Außenseiterin, die moderne Arbeitswelt, die Last der Frauen und die Sehnsucht, geborgen zu sein

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
In Japan dürfte der Roman der 38-jährigen Autorin anderes gelesen werden als hier. Sayaka Murata hat dafür den prestigeträchtigen Akutagawa-Preis gewonnen, und die »Japan Times« hat enthüllt, dass sie, wie auch ihre etwa gleichaltrige Hauptgestalt, selbst in einem dieser großen Läden gearbeitet hat, die dort »Kombini« heißen und 24 Stunden geöffnet haben.

Hat sie mal eine sonst literarisch kaum beachtete Seite der Wirklichkeit beleuchtet, dürfte sie das dortige Publikum loben, dem es völlig normal erscheint, wie sich Verkäuferinnen mit einem eingeübten Lächeln verbeugen. Auf unsereins indes muss es befremdlich wirken, wie Keiko Furukura nach ihrer Einstellung im »Kombini« zunächst in eine Uniform gesteckt wird, um dann unter Anleitung eines Schulungsleiters die Begrüßung der Kunden und den dazu passenden Gesichtsausdruck zu üben.

Zwei Wochen lang ging das so. »Es galt, dem Kunden lächeln in die Augen zu sehen und sich zu verbeugen, Hygieneartikel für Damen in neutrale Papiertüten zu packen, heiße und kalte Waren getrennt zu verstauen und sich vor dem Umgang mit Fastfood die Hände zu desinfizieren.« Natürlich waren die Haare zurückzustecken, Uhren und Schmuck abzulegen. Und jeden Morgen gab es einen Appell, um sich die Intonation der eingeübten Floskeln erneut einzuprägen.

Wie kann sich eine junge Frau so zur Marionette machen lassen! Weil sie Geld braucht, ja. Doch was ist das für ein System, das solche Unterordnung verlangt? Es ist ein anderes! Und unsereins sollte endlich mal begreifen, dass der westliche Individualismus nicht die Welt beherrscht und Frauenrechte völlig unterschiedlich aufgefasst werden. Was für uns die Norm ist, muss es für andere nicht sein. Eingeübter Kollektivismus kaschiert und erleichtert natürlich die Ausbeutung des Einzelnen und lässt Widerstand unwahrscheinlicher werden. Wobei sich die Mitarbeiter auch weitgehend sicher fühlen. Das honorieren sie durch Leistungswillen und Verantwortungsgefühl für die Belange des Unternehmens.

Haben nicht auch die, meist weiblichen, Angestellten in hiesigen Supermärkten effektiv zu funktionieren? Steht für einen Moment niemand an der Kasse, müssen sie aufspringen und hastig Waren einsortieren - immer im Blick auf sich nähernde Kunden: »Ich komme gleich.«

In der modernen Arbeitswelt wird auch der Mensch optimiert und trägt aus freien Stücken selbst dazu bei. Da ist es wohl lediglich das servil Dienerhafte, das uns in diesem japanischen »Kombini« so auffällig ist, die Verbeugung vor dem Kunden, als sei dieser, weil er zahlt, schon der bedeutendere Mensch. Das kapitalistische Zahlungsverhältnis, von zwanghaft freundlichem Lächeln umhüllt.

Nun ist Keiko Furukura im Roman freilich eine besondere Frau. Schon in der Schule war sie eine Außenseiterin. Die Eltern erlebten sie bei unvorhersehbarem Verhalten, ängstigten sich und waren froh, dass sie bei »Smilemart am Bahnhof Hiiro-cho« eine Anstellung fand. Eine unsichere Person, die sich in festgelegten Arbeitsabläufen wohlfühlt. Dabei handelt sie durchaus schöpferisch. Sie atmet mit dem »Kombini«, und der lebt in ihr. Durch diese Arbeit war sie »ein Rädchen im Getriebe der Welt«.

Das mag man auf Seite 24 noch als Kritik seitens der Autorin verstehen. Aber als kurz darauf »Herr Shiraha« auftaucht, der Arbeit sucht, ohne sie verrichten zu wollen, haben die Wertmaßstäbe der jungen Frau schon etwas auf uns abgefärbt. Was für ein Nichtsnutz, den seine Kolleginnen da mitschleppen müssen. Nach seiner Entlassung hat Keiko noch Mitleid mit ihm, weil er keine Bleibe hat, lässt ihn bei sich einziehen - und arbeitet für zwei. Da erwartet man, nach allem, was man über sie weiß, sogar Schlimmes. Aber dazu kommt es nicht.

Dazu fiel mir eine deutsche Sage ein: Die Weiber von Weinsberg sollten freien Abzug erhalten, nachdem die Welfenburg 1140 von den Staufern eingenommen worden war. Sie durften mitnehmen, was ihnen das Liebste war. Da nahmen die Frauen ihre Männer auf den Rücken, die andernfalls getötet worden wären. So geschieht es seit undenklichen Zeiten: Frauen schleppen Männer, die sie dabei mitunter noch schlagen.

Vieles geht einem durch den Kopf bei dieser Lektüre. Keiko Furukura, so seltsam sie zunächst erscheint, ist eine interessante Person. Wie Sayaka Murata in einer sanften, wägenden Sprache von ihr erzählt, tauchen wir ein in eine zunächst fremde geistige Welt. »Anpassung macht einen großen Teil unseres Mensch-Seins aus«, meint Keiko, die zu diesem Zweck ihre Umwelt klug beobachtet. Aber dabei neutral bleibt, eigenständig.

»Ladenhüterin« wird sie genannt, weil sie mit 36 noch nicht verheiratet ist. Sie will keinen Mann und schon gar keine Nähe. Die gebotene Frauenrolle kann sie nicht spielen. Eine »Ladenhüterin« im besten Sinne ist sie dabei für den »Kombini«, den sie tatsächlich hütet, als wäre er ihr eigen, und in dem sie jene Geborgenheit findet, die sich doch viele für ihr Leben ersehnen. Eine glückliche Marionette? Darf man ihr denn nicht zugestehen, dass sie genau dieses, ihr eigenes Leben will?

Sayaka Murata: Die Ladenhüterin. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag. 160 S., geb., 18 €.

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