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Der Mann, der Wernher von Braun jagte
Michael Chabon über einen Weltraumnarren, der die Mondlandung nicht mit ansehen wollte
Als die Amerikaner 1945 in den Bergstollen Dora-Mittelbau in Thüringen kamen, wo 20 000 Häftlingssklaven für den Nazi-Raketenbau starben, bot sich dem Großvater von US-Schriftsteller Michael Chabon (Jg. 1963) ein erschreckender Anblick: »In den Tunneln unter dem Kohnstein fanden die Befreier zwischen unfertigen Raketen und laufenden Maschinen die Männer der letzten Schicht, von ihren Aufsehern verlassen. Sie waren zu schwach, um sich zu bewegen, an Flucht war nicht zu denken. Strichmännchen mit großen ernsten Köpfen, die die Alliierten wie Eulen betrach᠆teten ...« So war ihm für den Rest seines Lebens verwehrt, Raketenpionier Wernher von Braun mit leuchtenden Augen zu sehen.
• Michael Chabon: Moonglow. Roman. A. d. am. Engl. v. Andrea Fischer.
Kiepenheuer & Witsch, 496 S., geb., 24 €.
Chabon, dessen Buch in den USA zum Bestseller wurde, lässt in seiner achtzeiligen Vorbemerkung offen, wie hoch der Wahrheitsgehalt der Erinnerungen im Detail ist, die sein Großvater ihm auf dem Sterbebett anvertraute. Aber dass wir es bei »Moon-glow« - auf Deutsch: das Silberlicht des Mondes - mit einem fiktiven Werk von Faktenschwere zu tun haben, ist unstrittig. Das betrifft den Hauptstrang des memoirenhaften Stücks ebenso wie das gesicherte Wissen um Wernher von Braun (1912 - 1977), den großen Physiker und Raketenkonstrukteur deutscher Herkunft. Der archetypische Blonde, kaltblütige Idealist und Spätleugner aller schuldhaften Verstrickung von Wissenschaft, war 1937 Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde geworden. Er leitet die Entwicklung der V2, Hitlers herbeihalluzinierter Wunderwaffe. Im September 1945 kommt von Braun nach Amerika, wird 1955 US-Bürger und bald leitender Mitarbeiter der NASA. Er hat entscheidenden Anteil am Start künstlicher Erdsatelliten, mehrerer Raketenreihen und an der ersten bemannten Mondlandung 1969.
Die Zielfahndung des Pentagon nach Raketen- und Atomspezialisten im Nazireich zahlte sich aus. Der für Entwicklung und Bau einer Atombombe (Manhattan-Projekt) zuständige General Leslie Groves schreibt in seinen Memoiren, solche Männer seien den Amerikanern »zur Zeit des Zusammenbruchs Deutschlands … mehr wert (gewesen) als zehn Divisionen Deutscher«. Wären sie in russische Hand gefallen, hätten sie sich »als unschätzbar für sie erwiesen«.
Chabons Großvater, im Roman ein namenloser Ingenieur, ein schweigsamer, harter Hund, ausgestattet mit dem hilfreichen »Eisenhower-Pass«, ist gegen Ende des Krieges unter den vorrückenden Amerikanern einer der geheimen Kopf-Jäger. Wie von Braun hat er ein Raketen-Faible, was ihn in eine Sonderbeziehung zu dem Visionär bringt. Dass Dr. Jekyll-Braun auch ein Mr.-Hyde-Gesicht besitzt, öffnet dem GI auf Sondermission beim Vorrücken ins untergehende Nazireich die Augen. Brauns Rekrutierung für die Amerikaner ist ihm deshalb auch ein Vierteljahrhundert später noch so zuwider, dass er sich weigert, die durch ihn befleckten Bilder von der Mondlandung im Fernsehen anzuschauen.
Wieder und wieder hat sich der heimgekehrte Raketennarr da schon gefragt, was eigentlich aus dem Verantwortungsgefühl des Wissenschaftlers in Dora geworden war. »Der Traum jenes Mannes«, erzählt der Großvater seinem Enkel, »mochte am Anfang schön und erhaben gewesen sein. Vielleicht hatten diese Erhabenheit und Schönheit von Braun eine Zeit lang blind gemacht für all die Arten, auf die er seinen Traum fleißig verriet ... Doch spätestens als sich der Traum, so wie die meisten Träume, als die elektrische Ladung einer schlichten Zwangshandlung entpuppte, die durch einen Stromkreis von Lug und Trug floss, wäre die Zeit reif gewesen, ihn aufzugeben.«
Als der Sterbende dem Enkel seine Erinnerungen eröffnet, ist er durchaus kein überheblicher Moralapostel geworden. Dazu hat er selbst ein zu bewegtes, von Irrungen und Idiotien flankiertes Leben geführt. Aber in einem gibt es für ihn beim Blick auf Wernher von Braun kaum Zweifel: »In jeder Hinsicht war er das Nazischwein mit dem größten Glück, das je gelebt hatte.«
Chabons Erzählung eines wechselvollen Lebens basiert nicht nur auf der Geschichte um den Wissenschaftler und dessen Teufelspakt. Nach Ansicht des Rezensenten dauert es bloß entschieden zu lange, bis sich die Braun-Geschichte entblättert.
Chabon, ein Autor mit wunderbarer Sprache, der selbstbewusst zwischen Themen und Genres zu wechseln vermag, übertreibt es hier. Es könnte daher geschehen, dass mancher Leser gar nicht zum Kern der Braun-Sache vordringt, weil er, ermattet von mancher Episode um gänzlich andere Erinnerungen des Großvaters, vorher die Segel streicht.
Natürlich besteht die Besonderheit von Lebenserinnerungen gerade darin, dass sie ungeordnet und unsystematisch, widersprüchlich, sprunghaft und ausufernd ausgebreitet werden. Noch dazu, wenn der Erzähler, von Krebs gezeichnet und von Morphium gesteuert, zwischen Not und Elend pendelt. Doch die Sprünge von den Kriegserinnerungen des Opas, zu dessen Ehe, einer nochmaligen späteren Liebe, dem Versuch, mit einem Freund aus technischer Neugier eine Brücke zu sprengen, und einer daraus resultierenden Zeit im Gefängnis, sind eine nicht immer bekömmliche Herausforderung. Sie sind eine Gestaltungsschwäche in einem großen Buch auf der Suche nach Wahrheiten und Zufällen, nach ständig lauernden trügerischen, mitunter teuflischen Versuchungen im Leben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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