- Wirtschaft und Umwelt
- Sozialproteste in Spanien
Rentner in Aufruhr
In ganz Spanien wird gegen die Regierung und für ein würdiges Leben protestiert
Eine »graue Flut« schießt ausgehend vom Atlantik im Baskenland durch den gesamten spanischen Staat und könnte mit ihrer Wucht die konservative Regierung einfach fortspülen. So zumindest hoffen es die Rentner, die zu Hunderttausenden auf die Straße gehen. Und auch die eigene Basis steigt ihr auf die Füße, und fordert ein würdiges Leben. »Hände hoch, das ist ein Überfall«, wird überall im Land gerufen und kritisiert, dass die ultrakonservative Volkspartei (PP) die Rentner erneut mit einer Rentenerhöhung von 0,25 Prozent abspeisen will.
»Es geht um unsere Würde«, sagt Marga del Coto im baskischen Donostia (San Sebastián) dem »nd«. Sie kann mit fast 80 Jahren nur noch schwer laufen, ließ es sich aber nicht nehmen, mit ihren Töchtern und vielen tausend Menschen trotz Sturm, Kälte und Regen zu protestieren. Denn mit dem derzeitigen Rentenniveau sei ein würdiges Leben nicht möglich.
»Die halten uns für dumm«, erklärt ein älterer Herr neben ihr. Seit Jahren seien die Renten praktisch eingefroren. »Es reicht kaum noch zum Leben, die Preise steigen und steigen«, sagt er. Fast 50 Jahre habe er Beiträge bezahlt und müsse sich nun sogar das Essen vom Mund absparen.
Beide empört, dass die »Chorizos« (korrupte Gauner) unter der PP von Mariano Rajoy sogar den Rentensozialpakt geschleift haben. Die jährliche Anpassung an die Inflation wurde abgeschafft. Politiker würden sich dagegen Bezüge und Diäten anheben. Sie erhielten monatlich mehr Diäten fürs Essen als ein Rentner an Mindestrente von gut 600 Euro. So kämpfen sie nicht nur für den Inflationsausgleich, sondern auch für eine Mindestrente von 1080 Euro im Monat.
Der Unmut hat sich in langen Krisenjahren angestaut. Er bricht sich jetzt Bahn, da ständig neue Korruptionsaffären die PP erschüttern, und Rajoy ständig behauptet, es gehe aufwärts. Die Wirtschaft wächst seit zwei Jahren deutlich, doch das Plus kommt unten nicht an. Die Arbeitslosigkeit ist mit gut 16 Prozent weiter hoch und oft ist die Rente das einzige Einkommen einer Großfamilie, in der alle arbeitslos sind oder nur prekäre befristete Jobs finden.
Drei Milliarden Euro hätte der Inflationsausgleich 2018 gekostet. Das Geld sei nicht da, sagt Rajoy. »Drei Milliarden für die Rettung von Autobahnbetreibern hatte er aber«, sagt die Rentnerin Del Coto, um »von Bankenrettungen gar nicht erst zu sprechen«. Sie geht längst nicht mehr nur für die Rente auf die Straße, sondern auch gegen die amtierende Regierung und die, die sie wie die Sozialdemokraten (PSOE) oder die rechten Ciudadanos (Bürger) erneut an die Macht gebracht haben und jetzt nicht stürzen.
Seit Wochen gibt es Massendemonstrationen. Begonnen haben sie in Bilbao und zunächst breitete sich die Bewegung über das Baskenland aus. Sie machte bald im gesamten spanischen Staat Schule und erreichte am Samstag einen Höhepunkt. Hunderttausende gingen überall auf die Straßen.
In Bilbao war der Protest erneut besonders stark. Nach Polizeiangaben waren fast 120 000 Menschen auf den Beinen oder in Rollstühlen unterwegs - ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Es war die größte Demonstration im Land, obwohl in der Hauptstadt Madrid etwa zehnmal so viele Menschen leben. Dort gab es zwei Märsche, da sich die Organisatoren nicht einigen konnten.
Dabei ist Bilbao riesige Demonstrationen gewohnt. Im Januar protestierten 100 000 für die politischen Gefangenen und einen Friedensprozess. Doch nun demonstrierten Zehntausende parallel in allen Städten und vielen Provinzstädten. Auch deshalb sprechen die spanischen Medien von einer »historischen Mobilisierung«.
Einen Schub erhielten die Rentner durch die Unterstützung der Frauenstreik-Bewegung. Am 8. März hatten mehr als fünf Millionen Menschen für Gleichberechtigung gestreikt. Hinzu kommen unterschiedliche Bewegungen wie »Wir sind kein Delikt«, die auch gegen das »Maulkorbgesetz« protestiert haben. »Wenn wir nicht für unsere Rechte demonstrieren«, erklärt der 21-jährige Adrián Vázquez in Bilbao, »wird es niemand tun«. Er war zum ersten Mal in seinem Leben auf einer Demonstration.
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