Tortenhälften in orange

Das 113. Programm der Distel: »Hotel Heimat« von Frank Lüdecke

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 4 Min.
Es ist kaum zu glauben, aber wahr: Die Umbauarbeiten am Admiralspalast haben der Distel endlich auch einen neuen Fahrstuhl beschert. Er ist zwar kaum schneller als der alte, aber dafür von Chromstahl umhüllt, hat sogar einen zweiten Ausstieg! Eine Spiegelfront an der Seite gaukelt doppelte Größe vor. Auch das kleine sympathische Kassenräumchen direkt an der Friedrichstrasse ist nicht mehr. Distelkarten sind ab sofort im Foyer des großen Hauses übern Hof zu haben. Der Saal ist (bislang) noch verschont geblieben vor Modernisierungen. Findet doch das jeweils Neue auch auf der Bühne statt. Und so wurde sie freudig erwartet, die nunmehr schon 113. Inszenierung des Leitkabaretts der Berliner (Ost). Nach der »freundlichen« Übernahme duch den Altbundesbürger Frank Lüdecke hat er schon wieder ein ganzes Programm und (s)eine Inszenierung gleich dazu auf die Bühne gebracht: »Hotel Heimat«. Nach dem furiosen »Zwischen den Polen«, einer ersten kabarettistischen Schau der Merkelzeit, hat Lüdecke für die herrschenden Verhältnisse einen herrlichen Ort gefunden. Ein Hotel, irgendwo in Deutschland, in Berlin. Heimat ist zum Gästehaus geworden, nicht mehr Ort der Verwurzelung, sondern Hintergrund für verschiedene Arten von Begegnung in einer zufälligen Durchgangsstation. Eine schöne Grundidee des Kabarettdirektors, mit vielen Text- und Regieeinfällen durchgearbeitet. Das Hotel auf der Bühne im zweiten Stock an der Friedrichstraße besteht eigentlich nur aus zwei großen orangenen Tortenhälften aus Sperrholz, die sich mal zum Bett oder zur Rednertribüne zusammenschieben lassen, die auch als Empfangstresen taugen, mal auch als Reitpferdchen - oder sie sind einfach nur Untergrund für allerlei artistischen und verbalen Spagat (kongeniales Szenenbild: Volker Walther). Kabaretteinfälle müssen auch immer ausfällig sein. Adressaten für Spott und Geißelung gibt es wahrlich genug in diesem heimatlosen Hotel. Doch was nutzt der beste Text, wenn er nicht auch gut rüberkommt. Lüdecke hat sich dabei einmal mehr auf Dagmar Jäger, Michael Nitzel, und Stefan Martin Müller verlassen können. Ein verlässliches Gespann, wenn es um gespieltes Kabarett geht. Eingespielt, dass es eine wahre Freude ist, ihnen zuzuschauen und zuzuhören. In an die dreißig Rollen haben die Drei zu schlüpfen. Die Jäger hat ihren großen Auftritt als Berlin-Touristin aus den ZAL (Zehn alte Länder), die im Hotel Heimat immer noch die Zeit nach der Maueröffnung beschnattert: »Der Solidaritätsbeitrag ist die gerechte Strafe für einen verlorenen Angriffskrieg. Wir haben Hitler unterstützt. Und dafür müssen wir jetzt Brandenburg wieder aufbauen«. Oder sie ist eine Professorin aus Westdeutschland, die mit einem wildfremden Mann nach einer heftigen Nacht im Hotelzimmer aufwacht - und einen solchen Stuß zur Familienpolitik von sich gibt, dass das Publikum sich biegt vor Lachen (»Zusammenleben im dritten Jahrtausend«). Dann ist sie eine türkische Putzfrau, die devot durch das Hotelzimmer huscht und putzt, was die orangenen Kleinmöbel eben so hergeben. Stefan Martin Müller gibt ihren Mann, einen Türken, der in gebrochenem Deutsch einen urkomischen Diskurs über den Koran und seine Bedeutung als das wahre Grundgesetz darbietet. Er kommt auch als »Hausmann« bestens an, oder als ungeratener Sohn, der immer nur die Musik seines Vaters hört und sich mit 28 Jahren noch pudlig wohl im Hotel Mama fühlt. Michael Nitzel steht den beiden in nichts nach. Mal gibt er einen verschmitzten Hausdiener (aus Thüringen), an dem sich Dame aus dem Westen hübsch abprallen kann, mal einen ziemlich ratlosen Pfarrer (»Meinst du, in der Bibel steht was zum Thema Samen einfrieren? Natürlich nicht! Vor 2000 Jahren konnte man noch nicht eimnal Milch einfrieren«). Und er darf auch kalauern: »Wie heißt der höchste arabische Feiertag in Deutschland? Allahheiligen!« Bernd Wefelmeier am Klavier und Matthias Lauschus (an diversen Instrumenten) sind - wie schon so oft - eine wahre Bereicherung des Bühnengeschens, auch wenn sie beim 113. Programm nicht direkt in das Geschehen eingreifen. Hörenswert allein schon ihr Kurzexkurs durch die Musikgeschichte von Bach über Haydn bis Mozart. Und ein klitzekleiner Extraspass ist auch, wenn Lauschus die Geräusche und Stimmen der Telefonanlage des Hotels imitiert. Auch wenn die drei Schauspieler singen (was sie intensiv, aber diesmal recht selten tun), findet die Musik den heimatlichen Hotelton. Das Kabarett des Frank Lüdecke kommt prima ohne Parodie und Klamotte aus. Zeitbezüge sind zum Geist der Zeit geschrieben, nicht aus der aktuellen Zeitung nachempfunden. Tragik und Komik wohnen nahe beieinander, wenn solche Art von Theater gemacht wird. Wenn Nitzel einen Hinterbänkler der SPD im Bundestag gibt, möchte man mehr Weinen als Lachen. Wenn Jäger (fein heiser) singt, hat sie einen schon in ihren Bannkreis gezogen. Und wenn Müller die Locken schüttelt, fällt immer eine Pointe raus. Dreifache Größe, aufgespielt, nicht vorgegaukelt! Viel Applaus. Nächste Vorstellungen: heute und morgen 20 Uhr, Sa. 18 u. 21 Uhr.
Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -