Mord an Jüdin schockt Frankreich

Holocaustüberlebende wurde Opfer eines vermutlich antisemitischen Verbrechens

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei einem für Mittwochabend geplanten Schweigemarsch wollen viele Einwohner von Paris sowie Vertreter von Parteien und Verbänden die 85-jährige jüdische Rentnerin Mireille Knoll ehren. Sie wurde am vergangenen Freitag in ihrer Wohnung ermordet und teilweise verbrannt aufgefunden. Die Täter hatten sie durch elf Messerstiche getötet und dann versucht, die Wohnung in Brand zu setzen, um die Spuren ihrer Tat zu verwischen.

Aufgrund von Hinweisen der Nachbarn hat die Polizei umgehend einen 27-jährigen Hausbewohner nordafrikanischer Herkunft festgenommen, der seit Monaten bei der alten Frau ein und aus gegangen ist, sie also gut kannte. Wie die Polizei mitteilte, ist der Tatverdächtige wegen zahlreicher Diebstähle und Sittlichkeitsdelikte vorbestraft. Ferner konnte ein 21-jähriger obdachloser Mittäter verhaftet werden.

Drei Tage nach dem Mord erklärte die Staatsanwaltschaft, dass von einem antisemitisch motivierten Verbrechen auszugehen sei. Es wurde ermittelt, dass der Hauptverdächtige zu seinem Komplizen gesagt hat: »Das ist eine Jüdin, da muss Geld sein.« In Wirklichkeit lebte Mireille Knoll in äußerst bescheidenen Verhältnisse und seit 60 Jahren in einer Sozialwohnung. Wie der Sohn der ermordeten Frau berichtete, war Mireille Knoll als Kind 1942 nur um Tage der Massenverhaftung von 13 000 Juden in Paris und der Deportation nach Auschwitz entgangen, weil ihre Mutter mit ihr nach Portugal flüchten konnte. Sie kehrten erst nach dem Krieg zurück.

Francis Kalifat, Präsident des Dachverbands aller jüdischen Organisationen in Frankreich (CRIF), würdigt im Gespräch mit »nd«, dass »die Staatsanwaltschaft sehr schnell den antisemitischen Charakter der Tat erkannt« habe. Als vor knapp einem Jahr eine andere jüdische Rentnerin, die 65-jährige Sarah Halimi, von einem muslimischen Nachbarn mit dem Ruf »Allahu Akbar« aus dem Fenster gestürzt wurde und dabei ums Leben kam, hat die Justiz lange von einem »unerklärlichen Tatmotiv« gesprochen und geistige Verwirrung des Täters vermutet. Erst vor wenigen Wochen hat die zuständige Staatsanwältin den antisemitischen Charakter des Falls Halimi anerkannt.

»Das zeugt von den Problemen, die man in Frankreich immer noch hat, den latenten und sich tagtäglich in verschiedenster Form äußernden Antisemitismus einzuräumen«, sagt Kalifat gegenüber »nd«. Das liege zweifellos daran, dass die Anzahl der Menschen muslimischen Glaubens mit vier Millionen zehnmal höher ist als die der französischen Juden - und sich die Politik unwillkürlich darauf einstellt.

Darum werden Ausschreitungen gegen Juden, wie sie täglich vor allem in armen Vorstadtvierteln vorkommen, von Polizei und Behörden oft negiert oder heruntergespielt. »Beispielsweise ist es für einen Jugendlichen in einer solchen Gegend äußerst gefährlich, sich in der Öffentlichkeit mit der Kippa sehen zu lassen«, meint Kalifat.

Allein seit Anfang des Jahres ist es bereits zu 33 tätlichen Angriffen auf Juden gekommen, dabei würde längst nicht bei allen derartigen Vorkommnissen Anzeige erstattet, weil die Ermittlungen oft schnell wieder eingestellt würden. »Während früher Juden und Muslime in Frankreich meist friedliche und harmonisch zusammengelebt haben, fühlen sich seit einigen Jahren immer mehr Juden hier angefeindet und in Unsicherheit«, ergänzt er.

Darum steige der Strom der Auswanderer nach Israel. In den vergangenen fünf Jahren waren es mehr als 10 000, doppelt so viele wie in den vorangegangenen fünf Jahren, und die Tendenz ist weiter steigend. Aber es gebe in Frankreich nicht nur den unerträglichen »Antisemitismus der Straße«, sondern auch einen »Salon-Antisemitismus« unter Intellektuellen und Bildungsbürgern, so Kalifat. Als Ausdruck dafür werte er die Ankündigung des renommierten Literaturverlags Gallimard, die extrem antisemitischen Pamphlete des Schriftstellers Céline aus den Jahren 1938 bis 1944 neu herauszubringen, wenn auch mit kritischen Anmerkungen von Wissenschaftlern. Diese Absicht hat Gallimard nach Protesten von Serge Klarsfeld und anderen jüdischen Persönlichkeiten sowie des CRIF »zurückgestellt, aber nicht ganz aufgegeben«.

Der CRIF-Präsident hatte bei seinem Aufruf zu dem Schweigemarsch sowohl Marine Le Pen als auch Jean-Luc Mélenchon oder andere Vertreter ihrer Bewegungen ausgeladen. Bei der rechtsextremen Nationalen Sammlung (vormals Front National) verstehe sich das von selbst aufgrund ihrer historischen rassistischen und revisionistischen Wurzeln, während die linke Bewegung La France insoumise mit ihren Aufrufen zur Solidarität mit den Palästinensern und zum Boykott Israels »nur zu oft die Grenzen von legitimer Kritik zum Antizionismus und zum Hass gegen Israel und die Juden überschreitet«. Sowohl Le Pen als auch Mélenchon reagierten darauf mit der sinngemäß identischen Ankündigung, dass sie sich die Teilnahme an dem Schweigemarsch durch niemanden verbieten lassen.

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