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  • Festtage der Staatsoper

Prototyp einer eingeäscherten Ordnung

»Festtage der Staatsoper«: Verdis »Falstaff« in der Regie von Mario Martone aufgeführt, Dirigent: Daniel Barenboim

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Oper, spannend durchweg, frech, höhnisch, voller Würze. So brachte sie Mario Martones auf die Bühne der Berliner Lindenoper. Verdis »Falstaff« reicht weit in die Moderne. Nicht allein der turbulenten Verfallssymptome der Epoche spiegelnden Komödie wegen, als vielmehr dem, was in den Noten steht. Ohrenfällig jene rasenden 6/8el-Raster, in vielerlei Schüben kreuz und quer durch die Gruppen jagenden Triolen, der Alarmismus des Chores im Schlussakt. Sodann die »Arien«, die keine sind, wohl aber en minature Schlagabtausche, Stoßseufzer, Salven der Ranküne, des Spotts, der Lächerlichkeit. Melodien erscheinen wie Stückwerk, Motive wie umgebrochene Blümchen, Töne wie betrunkene Insekten. Die Partitur - sie hat nur wenige Themen und Motive, die permanent variiert wiederkehren - wetzt die Messer wider die Heldenoper und ist voller Witz. Sämtliche Abläufe sind durchkomponiert und bisweilen aufs Sparsamste instrumentiert. Exponierte Arien kennt der »Falstaff« nicht. Mit einer Ausnahme: hier singt sie die maskierte Daniela Barcellona als Miss Quickly. Strahlend ihr weißes Kleid. Himmlisch ihr Lied über die Narreteien der Liebe. Von der Empore des siechenden Turms in Akt III geht diese perlende, anrührende Musik in den Raum. Wahrlich, die »Commedia lirica« in drei Akten nach dem Libretto von Arrigo Boito, geformt nach Shakespeares »Die lustigen Weiber von Windsor«, sie ist Verdis beste Oper. Ihre Musik hebt in allem ab von seiner sonstigen Produktion. Ein Alterswerk, das Wege beschritt, wie sie in anderer Art Beethoven mit seinen späten Streichquartetten und der »Missa solemnis« gegangen ist.

Der geistige Entwurf von »Falstaff« ist schlechthin Gegenmodell zu Mozarts »Giovanni«. Giovanni ist wie Falstaff der Verfolgte. Bevor ihn die Häscher umbringen, gelingt ihm über Klippen hinweg beinahe alles. Er ist junger Held, Draufgänger, Aufrührer, verkörpert mit Degen, aufgepflanztem Schwanz und Weiberbrüsten in der Hand den Übergang in die bürgerliche Glanzzeit. Der abgehalfterte alte, immer noch arschgeile Falstaff hingegen ist Prototyp einer sterbenden, wenn nicht schon eingeäscherten Ordnung, von dem die jungen Weiber sich nicht mehr anrühren lassen wollen.

Mario Martones Erfahrungen als Film- und Schauspielregisseur kommen diesem »Falstaff« zugute. In trickreichen Variationen bewegt er die Szenerie und hält Sir John Falstaff wie die Schar seiner Gegenspieler in Trapp. Die Bühnenbilder wechseln von Akt zu Akt und innerhalb derselben (Margherita Palli). Akt I zeigt eine toskanische Taverne mit Vorplatz, Tisch und Gestühl, die später als Innenansicht wiederkehrt. Mit ihren farbigen, geschwungenen Wandbemalungen erinnert sie an die Zeit der Hippiebewegung. Dazu passend die Klamotten (Ursula Patzak). Michael Volle schnauzt anfangs rauchend herum mit Krempenhut, T-Shirt, Lederjacke, Jeans wie Udo Lindenberg in besten Tagen. Abgeledertes Zeug tragen auch seine Kumpane Bardolfo (Stephan Rügamer) und Pistola (Jan Martiník). Die beiden sollten in seinem Auftrag Adelsleute beklauen, aber sie dilettieren in dem Geschäft, weswegen sie Falstaff misslaunig anherrscht.

Michael Volle, Star in der Opernszene und im Fach Kunstlied, stellt den coolen Macker heraus, den Platzhirsch, der Falstaff längst nicht mehr ist. Als zorniger alter Mann, der Welten Unrecht ausgesetzt, in Dingen des Eros nicht mehr ganz Herr seiner Kräfte, schreibt er gleichlautende Liebesbriefe an zwei Damen hohen Standes in der Absicht, über eine Liebesaffäre an ihren Reichtum zu gelangen. Aber die und ihre Freundinnen vermasseln ihm das gründlich. Alice (Barbara Frittoli), Nannetta (Nadine Sierra), Meg Page (Katharina Kammerloher), die erwähnte Quickly wiegen sich jenseits der Stadt halb nackt in der Adriasonne und spinnen die Intrige. Sie narren ihn, fingieren Rendezvous auf der Oase mit Swimmingpool und zuletzt in mystischer Nacht, schmeißen ihn sogar mit dem Wäschekorb in den Fluss, weil Alices Ehemann Ford dem Treiben der Frauen auf die Schliche kommt. Eingewoben in die Intrige das Trio aus Ford, Fenton, und Dr. Cajus. Der eine eifersüchtig (Alfredo Daza), der zweite junger Liebender (Francesco Demuro), der dritte ein um seine Braut getäuschter zorniger Mann (Jürgen Sacher). Von vielerlei unterschiedlich motivierten Seiten ins Visier genommen, soll Falstaff zuletzt seinem Trachten abschwören.

Doch dieses Anachron von Mann weiß sich durchaus zu wehren. So alt und betulich wirkt Michael Volle als Falstaff gar nicht. Groß der Mann, stattlich, seine Stimme kräftig. Gleich zu Beginn simuliert er den halbstarken 68er und gibt Bardolfo und Pistola eine stimmgewaltige Abreibung. Geradezu lehrhaft hier seine »Arie« über die Nutzlosigkeit der Ehre. Seiner Sache gewiss, wirft er sich in Schale, um die selbstsichere, intrigante, blutvoll vokalisierende Alice zu treffen, die die Begegnung selbst eingefädelt hat. Er rettet sich aus dem Wasser, was nicht ohne Muskelkraft geht. Freilich steht der Protagonist in der Taverne da wie der begossenen Pudel. Allein die Wunderbarkeiten des Weines trösten ihn, Anlass, eine der ulkigsten, weil süffisant-sentimentalen »Arien« der Oper zu intonieren.

Besonders einprägsam ist Akt III mit der Schlussfuge. Alle großen »Falstaff«-Ensembles legen auf deren Ausarbeitung größten Wert. Selbstredend auch die Kollektivität unter Mario Martone. Hier fallen die Würfel, hier plant eine Gemeinschaft, den alten Haudegen zu vernichten.

Der ganze Akt lässt schaudern ob seiner kunstvoll gestalteten, abgründigen, geisterhaften Atmosphäre. Vor dem morbiden Turmbau schürzt sich zum Drama, was bisher Komödie war. Falstaff, gelockt an den nebligen Ort der Nymphen, soll es an den Kragen gehen. Er soll abschwören, ja um Verzeihung bitten. Plötzlich rückt der halbe Chor näher und näher und bildet mit ihm eine Masse eng aneinander liegender Leiber. Symbol der Niederwerfung einer ganzen Gemeinschaft. In dem Moment ist er nicht mehr der einsame, einzige Verlorene. Doch der Chor richtet sich wieder auf und nimmt gegenteilige Haltungen ein. Vom Eros ergriffene halb nackte Paare ergänzen zeitlupenhaft die nächtliche Szene (Choreografie Raffaelle Giordano). Dann hebt die mächtige Fuge an, Musik, die man immer wieder hören kann. Eine erfrischende Aufführung, temposcharf, sinnlich, gestenreich, prägnant. In allen klanglichen Belangen auf höchstem Niveau, die Staatskapelle unter Daniel Barenboim.

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