Gemalte und aquarellierte Delikatessen
Rocco Hettwers Zyklus »Fiesta in Chinchón« fesselt in der Galerie Brockstedt
Zwei unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten ein und desselben Künstlers zeigt die aktuelle Schau in der Galerie Brockstedt. Gewidmet ist sie einem Maler aus Wurzen, der stolz darauf ist, aus der Geburtsstadt von Joachim Ringelnatz zu stammen, und zu dessen Vornamen sich seine Eltern von Viscontis preisgekröntem Sozialdrama »Rocco und seine Brüder« anregen ließen. Erst mit 26 studierte Rocco Hettwer nach Abitur, Lehre für Drucktechnik und Abendstudium für Malerei in Leipzig an der Kunsthochschule Weißensee bei Wolfgang Leber und Dieter Gotzsche, schloss 1995 mit dem Diplom ab und lebt seit 1999 freischaffend in Berlin. Dazwischen lagen ein Aufenthalt als Gaststudent in Bordeaux, Studienreisen nach Venedig, Paris und Spanien. So viele Inspirationen laufen in einer Person zusammen und prägen die künstlerische Handschrift.
Etwas davon fängt die kleine, feine Ausstellung bei Brockstedt ein. Da wären die wenigen, teils großformatigen Ölbilder in ihrem Extraraum. Um die Figur im Raum geht es Hettwer auch auf den altmeisterlich ausgeführten Gemälden. »Zwei Mädchen« von 2012 etwa umreißt bereits sein malerisches Credo. Auf 170 mal 190 Zentimetern sieht man ein Mädchen, das sich über die Lehne ihres Stuhls beugt; ein Fuß ist nackt, der Kopf neigt sich nach unten. Barfuß steht links neben ihr das zweite Mädchen, den einen Fuß abgestellt auf einem Hocker, das Haar hängt ihr übers Gesicht. Beide Mädchen bleiben unerkannt, ihre Schatten aber krümmen sich und scheinen sich vorm verdüsterten Hellblau der Wand fast gespenstisch zu verschränken. Das bringt in die Darstellung die eigentliche Dramatik ein. Der Raum ist ohnehin eher angedeutet als ausgeführt, löst sich ins Ungewisse auf. Auch was die zwei Mädchen verbindet und was sie überhaupt tun, bleibt offen. Bemerkenswert ist indes der feine Faltenwurf im Rock der Sitzenden und sein seidig glänzender Stoff.
Selbst wenn das Frauentrio »Der Impuls« von 2015 surreal geheimnisvoll anmutet, so sieht sich Hettwer doch mehr als Realist. Real sind die gemalten Figuren: eine kniende Nackte, die eben mit einem Stöckchen spielt; eine stehende zweite Nackte, auf deren massige Brust das Hauptlicht fällt; eine dritte Frau in T-Shirt und Hose hockt hinter einem Stuhl, dessen Rücklehnengitter ihr Gesicht rastert. Was das Trio in einem wieder eher skizzierten Raum zusammenführt, darf der Betrachter für sich interpretieren. Den Eindruck einer Heiligendarstellung verstärkt ein zwischen den drei Frauen im luftleeren Raum schwebendes Kreuz mit bunten Lämpchen. Das soll, so erfährt man, an den Devotionalienkitsch christlicher Feste in Spanien gemahnen. Denn Erlebnisse aus Spanien schlagen Hettwer derzeit in Bann.
So entstand nach einem Aufenthalt auf der iberischen Halbinsel 2015/16 ein Zyklus aus 21 schwarzweißen Aquarellen. »Fiesta in Chinchón« hält wie in Momentaufnahmen Szenen einer Stierhatz fest, die nicht mit dem Tod des Tiers endet, wohl aber jedes Geschick im Umgang mit dem Stier erfordert. Unweit von Madrid liegt jener Ort und hat die typisch südliche Häuserstruktur um den Marktplatz herum. Eine Bande schützt die vielen Zuschauer, wie sie sitzen oder auf der Bande lümmeln, vor Ausbrüchen des Tiers. Über der Arena spannen sich mit ihren hölzernen Streben gewaltige Markisen, deren einzelne Schatten den Boden zieren und der Situation mehr Spannung verleihen als das Tun im Rund. Winzige Menschlein in normaler Straßenkleidung, nicht im edlen Kostüm traditioneller Toreros, umstehen den einen oder mehrere Stiere. Der verharrt oft unschlüssig in der Mitte, in welche Richtung er sich wenden soll. Ein Mann reizt mit seinem Tuch, Dramatik jedoch eines Kampfes bleibt aus. Umso mehr fasziniert die Atmosphäre eines Rituals, das den Anwohnern seit Urzeiten normal vorkommt, uns Nordeuropäer aber befremdet. Wie filigran Hettwer Ort und Geschehen fixiert, das hätte, all seine Aquarelle aneinandergefügt, die Anmutung von Filmausschnitten.
Wie bereits Kinder an das Ritual herangeführt werden, zeigen die ersten Tuschzeichnungen der Serie: Ein Mann fährt einen Stierkopf, echt oder aus Pappmaché, auf dem Einrad durch die jubelnde Kindermenge. Den Frieden der Landschaft um die Stadt herum ohne Stierattitüde halten stimmungsvoll zwei farbige Aquarelle eingangs der Ausstellung fest. Unter goldflockigem Abendhimmel liegt fern der Ort, dehnt sich fruchtbare braune Erde, reihen sich die Bäume einer Allee, lugt die Silhouette einer Burg ins Bild.
Bis 28.4., Galerie Brockstedt, Mommsenstr. 59, Charlottenburg
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