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Das Herz der Revolte
Ulrich Chaussy hat seine Biografie über Rudi Dutschke überarbeitet, erweitert und neu herausgebracht
Ulrich Chaussy hat seine erstmals 1983 erschienene Dutschke-Biografie neu herausgebracht, überarbeitet und erweitert sowie mit einem Abituraufsatz Rudi Dutschkes versehen. Der Journalist hat sich den Ruf eines investigativen Journalisten mit seinen spektakulären Enthüllungen zu dem rechtsterroristischen Oktoberfest-Attentat 1980 erworben. Seine kriminalistischen Fähigkeiten beweist er auch mit der Rekonstruktion der Geschehnisse an jenem 11. April vor nunmehr 50 Jahren, als der Hilfsarbeiter Josef Bachmann auf das Herz der antiautoritären Revolte ein Attentat verübte.
Rudi Dutschke hatte als kleines Kind noch den Krieg miterlebt, war dann als Jugendlicher in der DDR aktives Mitglied der Jungen Gemeinde, verweigerte den Dienst in der NVA und floh schließlich vor daraufhin zu befürchtenden Schikanen noch vor dem Mauerbau nach West-Berlin. Dort studierte er Soziologie und wurde Mitglied der avantgardistischen Gruppe »Subversive Aktion«, trat dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei und wurde mit seiner Strategie, die Aufklärung mit provokanten Aktionen verband, bald zu dessen führendem Kopf.
Dutschke wird für Presse, Funk und Fernsehen zur Personifikation der anwachsenden Studentenbewegung und zum Hassobjekt ihrer politischen Gegner. Dann treffen ihn die Schüsse. Es folgten die Rekonvaleszenz und eine Odyssee im Exil. Sie führt ihn und seine Familie von Italien nach England und, nachdem man ihn dort ausgewiesen hat, nach Dänemark. Politisch kämpft er in den 1970er Jahren unermüdlich gegen linke Sektiererei und für den Aufbau einer linkssozialistischen Partei mit Rätestruktur. Schließlich engagiert er sich in Bürgerinitiativen und bei der Gründung der Grünen. Heiligabend 1979 stirbt Dutschke an den Spätfolgen des Attentates. Er ertrinkt während eines epileptischen Anfalls in der Badewanne.
Chaussys Biografie montiert Zeitungs- und Zeugenberichte mit Tagebucheinträgen und Textauszügen aus Dutschkes Nachlass mit Aktenvermerken, einschließlich exakter Daten, Uhrzeiten, Straßen- und Personennamen. Die Lebensstationen sind in filmisch anmutenden Szenen zusammengefasst, in denen Innen- und Außenansicht in einem Vexierbild zu verschmelzen scheinen. Die psychologische Zeichnung Dutschkes ist suggestiv, und doch verfehlt sie ihren Gegenstand, denn dem Biografen bleiben die inneren Beweggründe seines Protagonisten fremd. Chaussy, das verraten nicht zuletzt seine Annotationen und der Epilog, ist ein Linksliberaler, dem herrschaftsfreier Dialog, gewaltfreier Protest und demokratische Teilhabe sympathisch sind, während ihn eine politische Theorie mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Begriffe wie Klassenkampf und Vergesellschaftung der Produktionsmittel unheimlich dünken. Wenn jedoch Klassengegensatz, Ausbeutung, Repression und Manipulation nicht als objektiv angesehen werden, gesellschaftliche Widersprüche sich angeblich nur aus Borniertheit, Vorurteilen und Missverständnissen speisen, dann erscheint auch Rudi Dutschke, der doch zeitlebens ein kritischer Marxist sein wollte, nur als eine lächerliche Figur, die sich selbst missversteht.
Es ist nicht zu leugnen - und Chaussy belegt dies eindrucksvoll -, dass Dutschke seit seiner Gymnasialzeit bis zu seinem Tode durchgehend Objekt der Observation und versuchter Manipulation verschiedener Geheimdienste war, des US-amerikanischen ebenso wie des britischen, des bundesdeutschen »Verfassungsschutzes« wie der ostdeutschen Stasi. Doch daraus folgert er nicht, was doch naheliegend wäre, dass Dutschke mit seiner Theorie und Praxis von diesen Mächten als eine reale Bedrohung anerkannt wurde. Nein, angesichts der unausgesprochenen Prämisse, das eigentlich alles ganz harmlos und ein Missverständnis gewesen sei, litten offenbar die Verfolger und der Verfolgte an Realitätsverlust. »Die geheimdienstliche Perspektive auf Rudi Dutschke«, befindet Chaussy, »gibt häufig mindestens so viel über den Zustand der staatlichen Beobachter und ihrer Auftraggeber Auskunft wie über den Beobachteten«, nämlich über »Kontrollwahn«, »Paranoia« und die »Identitätsschwäche der politischen Führung«.
Chaussys politischer Standpunkt verführt ihn nicht nur zu teilweise grotesken Fehlinterpretationen, auch des Autors Urteil über den »langen Marsch durch die Institutionen«, ein zentrales Element in Dutschkes politischer Theorie, offenbart schieres Unverständnis. So behauptet Chaussy: »Dutschke proklamierte zwar den ›Marsch durch die Institutionen‹, konkretisierte aber nur das Tabu, am bestehenden parlamentarischen System und seinen Institutionen nicht teilzunehmen.« Des Biografen eigener Anspruch, Dutschke gegen »unbefugte Vereinnahmungen« verteidigen zu wollen, erinnert an einen Ausspruch Hegels: »Auch der gewöhnliche und mittelmäßige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt seine Kategorien mit.«
Ulrich Chaussy: Rudi Dutschke. Die Biographie. Droemer Knauer, 528 S., geb., 26,99 €.
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