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Die Quittung

Die Pegida- und AfD-Töne mancher ehemaligen ostdeutschen Bürgerrechtler zeigen, wie gespalten dieses Land ist

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 6 Min.

Alle Welt stutzt, weil eine Bevölkerung murrt und auf einmal unberechenbar wählt. Da werden den Regierenden lautstark kaum qualifizierbare bittere Vorwürfe vor die Füße geworfen. Der Ton eskaliert zu ungewohnter Feindseligkeit. Oberflächlich wahrgenommen suggeriert das die Auferstehung von Nazi-Ideologie. Weissagungen von fragwürdiger Qualität, aus dem sächsischen Kaffeesatz gewonnen, machen bereits die Runde. Unfassbar flach ist das Niveau der politischen Einsichten. Und das leider auf beiden Seiten.

Da wird eine ungewollte Ernte eingefahren. Eine Saat geht auf. Beim radikalen Umpflügen eines abservierten Staatsgebietes wurde sie in einen anders genutzten Boden eingebracht. Die Fruchtfolge umkehren und anders düngen, hieß es. Blühend sollte die Landschaft prangen. Tatsächlich, so manches Unkraut wucherte da. Vor- und Fehlurteile gediehen prächtig. Missgunst und Raffgier breiteten sich aus. War am Ende nur der eine Hass durch den andern ersetzt? Woher nur der wiederkehrende Hass, die neuerlich aufkeimende Enttäuschung, die neu entfachte Wut? Das mussten sie sich fragen, die in den abgelegenen Ebenen westlicher Ahnungslosigkeit zu respektabler Bedeutung Aufgelaufenen und zu nennenswertem Wohlstand Gekommenen.

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Da haben wir nun den Salat. Einseitige Betrachtungsweise zeitigt Polarisierung. Ständig nur andere und nie sich selbst infrage stellen, das muss am Ende in Fundamentalismus münden. Feindbilder über den gegebenen Anlass hinaus zu konservieren, verzerrt den Blick für die Realitäten. Und die waren in dem vorschnell als »ehemalig« abgetanen Staatsgebilde eben oft genug anders, als der nun zu Wort kommende kleine Moritz aus der Bürgerrechtler-Ecke es schilderte. Wie schrecklich hatte er gelitten, und nun hatte er seine Chance. Er hat sie leider vertan, weil er alle Trümpfe aus der Hand gab. »Fünf neue Bundesländer«, als einverleibtes Territorium angehängt ans große nunmehr Ganze - das flutschte eben nicht auf der Stelle. Schön aufgeputzt, entstanden unter der Hand halt viel mehr menschenleere Schmuddelecken, als für ein harmonisches Gleichgewicht tragbar ist.

Wie viel mental Unverdautes hat sich da angesammelt! Eine durchschnittliche Familie von Normalbürgern war genug gebeutelt von alten Nachreden und neuen Zumutungen. Mühsame Wanderschaft zu weit entfernten Arbeitsplätzen war über Nacht angesagt. Eine gleichrangige Werteskala für West und Ost ist bis heute noch nicht gefunden. Und nun die Flüchtlinge. Da kommen sie in ungewohnten Massen. Und sollen nett begrüßt werden. Welch abgrundtiefe Naivität zu glauben, dass München und Dresden oder meinetwegen Castrop-Rauxel und Limbach-Oberfrohna von deutschen Menschen gleichen Kalibers bevölkert wären! Einen von Herzen kommenden Willkommensgruß für ankommende Flüchtlinge aus aller Welt auf den Lippen. Alles Menschenfreunde nach Westzuschnitt.

Das klingt böse, betrifft jedoch Millionen und Abermillionen EU-Bürger ostseits von Elbe und Werra - es gibt da keine erlebte Tradition der Zuwanderung mehr. Von West nach Ost war einst die Christianisierung tief ins Slawische marschiert. Später wanderten Schwaben ins Banat oder nach Siebenbürgen. Seit 1900 kehrte sich das radikal um: Polnische Bergarbeiter ins Ruhrgebiet. Die sogenannten »Ostjuden« der ukrainischen und galizischen Besiedelung nach Berlin. Und weiter westwärts. Ungarn oder Tschechen musizierten durch halb Europa. Und der absolute, geradezu abnormale Gipfel waren die Jahrzehnte des DDR-deutschen Zuzuges. Erst strömend, dann mauerbedingt sickernd ins lockende Konsumsystem des Wirtschaftswunderlandes Bundesrepublik. Alles »Politische Flüchtlinge«? Offiziell wird das bis heute steif und fest behauptet.

Spätestens an diesem Punkt sind wir bei Uwe Tellkamp, der 95 Prozent aller jetzigen Flüchtlinge als lediglich »in unser Sozialsystem Einwandernde« sieht. Welch sonderbare unfreiwillige Assoziation! Wie der Sog des Wohlstands einst Millionen Deutsche von da nach dort zog. Doch wer der Hölle des mörderisch zur Gluthitze aufgeheizten Nahen Ostens entkommen will - wem entflieht er, verglichen mit einem Berliner Mauerflüchtling? Es ist schwer, diese Aussage zu Papier zu bringen: Die jetzt Menschen terrorisierenden Diktaturen - sind sie ernsthaft mit der durch den Mauerbau beschmutzten zweiten deutschen Republik zu vergleichen? Von uns engen Freunden neuer Mauerbauer?

Welch einmalige Chance, kraft der Aussage Tellkamps dem Kern politischer Wahrheiten auf die Spur zu kommen! Damit ist der oft überbordend absurd fabulierende Autor natürlich total überfordert. Selbst viel zu sehr Teil des von ihm im Roman »Der Turm« verewigten Dresdner »Weißer-Hirsch-Milieus«, wird er ewig das Gebilde DDR als abstruses Verhängnis ansehen. Durchschaut hat er es so wenig wie die Schlaumeier, die das »Andere-Leute-Fertigmachen« zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Krawall um jeden Preis? Nein. Was den »Turm« zum grandiosen Zeitroman mit scharfen satirischen Akzenten hätte machen können, begannen wir erst zu ahnen, als Christian Schwochow einen taffen Fernseh-Zweiteiler daraus destillierte. Jan Josef Liefers lieferte schauspielerisch eine brillante Charakterstudie, wo im Roman eine traurige Hauptfigur in reichlich diffus angelegtem intellektuellen Milieu agierte.

Heute staunt man medial oder sogar ganz offiziell über die Maßen: Warum und woher plötzlich diese Pegida-Töne? Und das aus dem Mund derer, die dem DDR-Regime standhielten! Mit welchem Vokabular die Wechselbäder der Neuorientierung angeheizt wurden, hat wohl niemand mehr im Ohr? Fein und fair war das nicht. Leute, die früher nur von der »Zone« schwafelten, machten nun überall »Bonzen« und »Linientreue« aus. Es wimmelte auf einmal nur so von »Spitzeln« und »Schnüfflern«. Eine Legende grassierte: die vom »Unrechtsstaat«, dieses Sakrileg gegen den geheiligten Anspruch, Eigentum zu besitzen. Über vernunftgemäße Erkenntnisse zu einer staatsbürgerlichen Bejahung der Demokratie - schön wäre es gewesen. Da waren zu viele Krawallmacher und Berufsstänkerer dazwischen.

Da nehmen sich Thilo Sarrazin oder Eva Herman, Vera Lengsfeld oder Jürgen Elsässer nicht viel, wenn Götz Kubitschek und Björn Höcke zum Sammeln blasen. Wer so vorsätzlich aus politischem Normalmaß ausflippt, disqualifiziert sich selbst. Die eigentlich unangenehmen Wahrheiten bleiben trotzdem ungesagt. Die Linke ist da viel zu einsilbig. Ja, leider geradezu begriffsstutzig. Leute, die vor lauter »Ehemaligerei« kein vernünftiges Wort über ihre eigenen Leistungen zu DDR-Zeiten herausbringen, driften nach rechts ab. Na und? Vom Erbe der angeblichen zweiten Diktatur radikal gesäubertes Terrain ist nun mal nach wie vor von der tatsächlichen ersten Diktatur als letzter deutscher Gemeinsamkeit verunreinigt. Und die so zahlreich dorthin Geworbenen rückten in Bundeswehr-Kasernen ein, deren befleckte Namen jetzt erst mühselig gesäubert werden.

Die Vorstellung von einem West-Ost-Einheitsmenschen ohne Erinnerung an Gewesenes ist ein lächerliches Phantom. Wir sind selbst noch Erben der Erlebnisse unserer Väter und Vorväter (Mütter und Vormütter eingeschlossen). Und eine Öffentlichkeit ohne die Stimme maßvoll abwägender und dennoch mahnend anklagender kluger Intellektueller bleibe uns bitte erspart! Wenn Friedrich Schorlemmer und Daniela Dahn gerade schweigen, können sich Volker Braun oder Ingo Schulze oder Jenny Erpenbeck doch vernehmen lassen.

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