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In der schlaflosen Welt
»Entlang den Gräben« reiste Navid Kermani durch das östliche Europa bis nach Iran
Sind die Züge von Berlin in den europäischen Osten immer so leer? Navid Kermani staunt. Vor der Abfahrt nach Poznań geht er noch zum Denkmal für die ermordeten Juden des Kontinents. Der Stelen-Blick, »der das Verbrechen in die Abstraktion überführt, da es die Vorstellungskraft übersteigt, versöhnt mich ein paar Minuten mit dem Denkmal«. Aber bald, zwischen den Betonquadern, ist er »wieder konsterniert«. Denn »je verlorener ich mich fühlen soll, desto mehr ärgere ich mich über den billigen Effekt ... Ehrlicher erscheinen mir da schon die Sicherheitszäune, wo steile Treppen zu unterirdischen Türen führen, auf denen ›Notausgang‹ steht.« Dann rollt Kermanis Zug gen Osten. Auschwitz. Der bedrängende Beginn für eine lange Reise.
Die Fahrt »Entlang den Gräben« führt den in Köln geborenen Sohn iranischer Einwanderer durch Polen, Litauen und Weißrussland, durch die Ukraine und über die Krim, an den Kaukasus und nach Iran. Gräben, das klingt auch nach Gräbern. Darunter Massengräber. Polen, Ukraine: Von 1930 bis 1945 wurden vierzehn Millionen Zivilisten Opfer Stalins und der Nationalsozialisten. Wer die Unvergleichbarkeit beider Barbareien betont, muss die Argumente nicht wiederholen, sie sind bekannt. Sie sind auch richtig. Aber ermordet werden Einzelne, Schuss für Schuss, und wer seine systembedingten Toten gegen die Toten anderer Regimes aufrechnet, bestätigt genau jenes Henkergemüt, das der Antikommunismus so ausgiebig ins Feld führt. Ja, viele Friedhöfe unterwegs - und das Schweigen der Toten ist ein angstfreies Schweigen, denn sie müssen nicht fürchten, auszusterben: neue Kriege, neue Tote.
Eine Reportage-Reise im Auftrag des »Spiegels«, fürs Buch dramaturgisch gebunden als eine Expedition in vierundfünfzig Tagen. Die Kirche und Bergkarabach, der Schützengraben und die Moschee, die Frontlinie und der Freizeitpark, das Trockenfleisch-Mahl im Blockhaus und das Atemholen an Raststätten und Flüssen, ein Schwuler in Jerewan und ein Armenier, der Aserbaidschaner hasst und sein langes Messer zeigt: »Wir bringen aber nur Männer um.« Ein weißrussischer Philosoph beschwört den Nationalismus als »angemessenste Organisationsform«. Eine Überzeugung, die tief wurzelt: »Russland frisst uns auf.«
In einem Hotel in Georgien wird er gefragt, wo er herkomme: »Iran«, sagt er mit dem einladendsten Lächeln, dessen er fähig ist - der israelische Tourist schreit entsetzt auf. Eine alte Frau in Grosny berichtet: Sie schlug, als die Stadt bombardiert wurde, gegen die Eisentür eines Kellers, denn sie hörte Stimmen. Aber von drinnen: »Wir sind schon hundert!« Kein Flehen half gegen die Obergrenze. Sie ging weinend weg, da traf eine tödliche Bombe Haus und Keller. Seitdem sagt die Alte von sich, sie lebe nicht mehr, »ich überlebe nur noch«.
Der reisende Autor - hartnäckig, offenherzig, menschenvertrauend - sieht sich als Anwalt jener »schlaflosen Welt«, die Stefan Zweig als innerste Heimat des Reporters bezeichnete. Vom Nahen zum Fernen schweben »unsichtbare Fäden der Besorgnis«. Ich weiß nicht, wo genau Reportage in Literatur übergeht, ein guter Reporter jedenfalls erzählt eine Geschichte, ohne über sie zu siegen. Eine Geschichte, die in der Zeit lebt - und ihr zugleich ein wenig entkommt. Eine Geschichte, darin Menschen in einer Erinnerung bleiben, die mit einem selbst zu tun hat. Die Welt als Ereignis in der - freilich unermesslichen - Enge des eigenen, sich quälenden Kopfes.
Leben ist auf Kermanis Reise, was es überall und zu allen Zeiten ist: eine ständige Entfernung von der Erwartungsfülle. Du erwartest Freiheit und erlebst Herrschaft; du ergreifst Partei, aber begreifst deshalb noch lange nicht, wo du selber auf dem Schachbrett stehst. Überall sucht der Autor nach jenen Bindemitteln, die Menschen stärken, trösten, aufrecht halten. Aber die Erfahrungen, denen er begegnet, schreiben sich ihm zumeist als Verlustanzeige ins Notizbuch. Identität, nach der man so lange sucht, dieses Zusammenfassbare der Existenz - das gibt es nirgends.
Kermani trifft auf religiösen Wahnwitz und aufbauende Glaubenskraft, auf politischen Fanatismus und freilich auch demokratieverpflichteten Pragmatismus. Stalin-Verehrung, Hass auf den »Schwulenjäger und Krimbesatzer« Putin - du stehst erschüttert vorm Wirrwarr der Geistes- und Gefühlswelten; Resultat eines verheerenden 20. Jahrhunderts, das auch linke Ideen, revolutionäre Energien und sämtliche Fortschrittstheorien auf unabsehbare Zeit in Misskredit brachte. Natürlich, so erfährt Kermani in Polen, sei dort Helmut Kohl nach wie vor beliebter als Willy Brandt. Obwohl der die Ostverträge durchsetzte? »Ja, aber er hat später die antikommunistische Opposition nicht unterstützt.«
Das Dorf, die Welt, deren Ächzen: »Am Ende hat jedes Volk, sofern es nicht ausgelöscht worden ist, Ansprüche, Vorwürfe, Traditionen, Lieder oder schlicht ein Stück Boden von seinen Vorfahren geerbt, auf das andere ebenfalls ererbtes Anrecht haben, sodass die Saat für neue Konflikte angelegt ist.« Allein das uralt gewachsene Völkergemisch in der Ukraine: in zwei Jahrzehnten Krieg völlig zerstört. Ja, wir begegnen einander alle in einem Erbe aus Glanz und - Dreck. Kermani erzählt vom Freund eines Cousins, der in Kurdistan tote Opfer irakischer Bomben bergen musste - seither kann er Fleisch und Blut nicht mehr sehen. In Moskau hatte er von der strikt europäischen Ausrichtung der Leute erfahren, »wir Russen sitzen schließlich wie Europäer auf Stühlen, die Asiaten auf dem Boden.«
Es kocht unter allen Oberflächen, wenn der schwankende Boden nicht eh schon aufbrach. Wer dieses Buch liest, spürt den Atem der Geschichte, ganz ohne Lektionsprotz; spürt die Kraft der Sinne, ganz ohne Prunk. Osteuropa, der Übergang nach Asien? Brodeln, Beben. Deshalb ist, was hinterm Kürzel EU steckt, für Kermani das politisch Wertvollste, was dieser Kontinent je hervorgebracht habe - Mauerfall bleibt fortwährende Arbeit. Zumal er bedenkliche Töne gegen Brüssel hört, etwa in Minsk: »Ich hoffe auf die EU-kritischen Kräfte, und die gibt es auch links. Wenn Sie Le Pen und Mélenchon zusammenrechnen, haben Sie fast schon die Mehrheit.« Ist das die absehbare bittere Zukunft?
Auch wegen solcher Befürchtungen gehört Kermani unbedingt zu den Dankbaren. Just im iranischen Isfahan, von wo seine Eltern vor sechzig Jahren emigrierten (er ist auf einem alten Fahrrad unterwegs), hebt er hervor, »was in einer westeuropäischen Biographie meiner Generation nicht vorkommt - der Krieg, die Revolution, die Unfreiheit, Angst, Folter, ermordete Schriftsteller, bitterste Not, Flucht, Vertreibung«. Als er zu Beginn seiner Reise in Auschwitz war, musste sich Kermani bei der Führung für eine Sprache entscheiden: »Einen Moment, in dem ich mich deutscher gefühlt habe als in diesem Moment, da der Button ›Deutsch‹ auf meine Brust kam, den hat es in meinem Leben nicht gegeben.« Natürlich kein Schuldgefühl, aber eines der Zuständigkeit.
Was dieses Buch prägt, hängt dir lange nach: dieses Empfinden vom Nichtheilwerdenkönnen der Welt. Vielleicht ist sie einfacher gestrickt, als wir meinen wollen: Es gibt nur zwei große politische Fraktionen - diejenigen, die eher zufrieden als unzufrieden sind, und diejenigen, die eher unzufrieden als zufrieden sind. Die einen versuchen, einen von ihnen gefürchteten Wandel zu verhindern, die anderen wollen einen von ihnen herbeigesehnten Wandel fördern, gar durchsetzen. Den einen entstellt die falsche Beruhigung das Gesicht, den anderen der Schreikrampf des Protestes. Frag nicht nach Programmen, nach Theorien, wer liest die noch, außerhalb der gehobenen Zirkel für ideologische Selbstbefriedigung; und keiner Bewegung gelingt, das Höchste zu erreichen - schon viel, wenn eine Bewegung das Niedrigste aufhält.
Am Schluss eines Besuches steht Navid Kermani in Isfahan in der Scheich-Lotfollah-Moschee. Die Zeit blieb stehen. »Wieder lehne ich mich schräg an die Wand, den Kopf im Nacken, und starre Minute um Minute in die Kuppel. Es gibt keine bessere Welt.«
Navid Kermani: Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan. C. H. Beck, 442 S., geb., 24,95 €.
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