Abspecken nach Chemnitzer Rezept
Das Merge-Technologiezentrum in der sächsischen Stadt hat sich zum wichtigsten Forschungsstandort für den Leichtbau in Deutschland entwickelt
Dutzende Schrauben und Nieten halten die einzelnen Bestandteile eines herkömmlichen Motorträgers zusammen, den die Wissenschaftler am Merge-Technologiezentrum Leichtbau genau unter die Lupe genommen haben. Die wichtige Fahrzeugkomponente bringt acht Kilo auf die Waage - trotz Aluminium. Das nun in Chemnitz entwickelte Pendant aus Faserkunststoffverbund wiegt rund ein Drittel weniger und kommt ohne Verbindungen aus. »Diese Komponente wird mittels Pressentechnologie in nur einem Werkzeug gefertigt«, erläutert Lothar Kroll, Koordinator des Bundesexzellenzclusters Merge an der Technischen Universität (TU) Chemnitz in Sachsen.
Keine zeitaufwendige Montage mehr, keine Metallbleche, die zurechtgebogen werden müssen, kein Entgraten scharfer Kanten - mit der Merge-Technologie entfällt eine Vielzahl an Arbeitsschritten. Weniger Gewicht und weniger Zeitaufwand bedeuten weniger Energieverbrauch und weniger Kosten. »Mit jedem Kilogramm, das am Auto eingespart werden kann, verringert sich der Kraftstoffbedarf und somit auch der CO2-Ausstoß«, ergänzt der Professor für Strukturleichtbau. Gemeinsam mit mehr als 100 Forschern und Technikern aus sechs Fakultäten arbeitet Kroll daran, bislang getrennte Verfahren für Materialien wie Kunststoff, Metall oder Textilfasern zu fusionieren - daher auch der Projektname. Merge bedeutet auf Englisch verschmelzen. Seit 2012 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) die sächsische Leichtbau-Spitzenforschung mit rund 40 Millionen Euro als Bundesexzellenzcluster. Weitere 35 Millionen Euro gibt der Freistaat bis 2021 für die Infrastruktur des Chemnitzer Leichtbauzentrums, das dann 10 000 Quadratmeter umfassen wird.
Allerdings haben es die Chemnitzer nicht in die aktuelle Ausschreibungsrunde des Exzellenzwettbewerbs geschafft. Diese Förderung läuft Ende 2019 aus. Die Nachricht habe sie im vergangenen Herbst sehr überrascht, sagt TU-Rektor Gerd Strohmeier. Von bundesweit 43 Exzellenzclustern beschäftigten sich nur zwei mit Produktionsfragen im Maschinenbau - und das im Produktionsland Deutschland. Künftig sei überhaupt kein Cluster in der klassischen Produktionstechnik mehr im Rennen.
»Aber ein Neubeginn birgt auch immer neue Potenziale«, meint Kroll zuversichtlich. So sei man beispielsweise bei der Zusammenarbeit mit der Industrie zukünftig freier als das bislang im Sinne der Grundlagenforschung erlaubt gewesen sei. Die aktuell rund 25 Teilprojekte sollen ab 2020 in mehrere Großforschungsprojekte überführt werden. »Merge bleibt. Was sich ändert, sind die Finanzierungsquellen.« Zudem stehe ab 2024 die dritte Runde der Exzellenzstrategie an - da wolle die TU wieder mitmischen.
Bis dahin will Chemnitz in Sachen Leichtbau auf jeden Fall das Maß der Dinge bleiben. Das nach TU-Angaben erste und einzige Bundesexzellenzcluster dieser Art arbeitet längst an serientauglichen Komponenten. Der neuartige Motorträger könnte künftig beispielsweise im E-Golf zum Einsatz kommen, den Volkswagen in der Gläsernen Manufaktur Dresden produziert - noch werde diese Komponente in Metallbauweise gefertigt. Eine neu entwickelte Pkw-Durchladeluke in der Rücksitzbank fährt bereits im Landrover Discovery über Deutschlands Straßen.
Galt der Leichtbau bis vor wenigen Jahren noch als teure Spielerei für das Premium-Segment, so kommt die Autobranche heute nicht mehr um das Thema herum. Leichtere, ressourcensparende Bauteile sind darüber hinaus aber auch in anderen Industriezweigen das Gebot der Stunde. »Wenn wir durch Leichtbau das Gewicht aller vorhandenen Fahrzeuge, Züge, Flugzeuge und bewegter Maschinen in Deutschland um etwa zehn Prozent reduzieren, dann gelingt es uns allein dadurch, die Klimaschutzziele der Bundesrepublik zu erreichen«, hat der Professor ausgerechnet. Je nach Bauteil bringe die Merge-Technologie schon heute Einsparungen zwischen 30 und 50 Prozent.
Und längst klopft nicht nur die deutsche Automobilindustrie in Chemnitz an. Merge arbeitet demnach auf allen Kontinenten mit mehr als 1500 Partnern zusammen. Zudem ist Kroll - 1959 in Polen geboren - bestens mit dem Nachbarland im Osten vernetzt. Auch in Polen wachse das Interesse am Leichtbau stetig, wie grenzüberschreitende Forschungsprojekte oder die bevorstehende zweite »Polish-German Bridge Conference« zwischen Wissenschaft und Industrie in Chemnitz belegten.
Der Druck durch den Klimawandel bereite dem Leichtbau den Weg, ist der Forscher überzeugt. Die Elektromobilität verleihe der Entwicklung zusätzlichen Schwung. Bis Mitte der 2020er Jahre werde sich der Leichtbau durchsetzen. Die tragende Rolle dabei will Chemnitz spielen. dpa/nd
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