An den Wänden die Losungen
Ausstellung im nd-Verlagsgebäude: »Empört Euch! Mai ’68 - Macht und Ohnmacht einer Utopie«
»Enragez-vous!« war an den Wänden der Sorbonne im Quartier Latin im Zentrum von Paris neben Hunderten anderen Losungen zu lesen, an der École nationale supérieure des beaux-arts, der Pariser Hochschule der Schönen Künste, am Censier, dem Literaturinstitut, und an vielen Hauswänden der Stadt Paris. Teilweise überklebt von Plakaten, die täglich neu in den Druckwerkstätten von Studierenden entstanden. Schnell geklebt von unzähligen Helfern, sollten sie informieren und mobilisieren.
Vom Pariser Mai ’68 künden heute Legenden, Zeitungen, Fotos, Fernsehmitschnitte, wissenschaftliche Abhandlungen oder gut ausgestattete Bildbände. Zur 50. Wiederkehr erinnern viele Zeitungen, Zeitschriften und andere aktuelle Publikationen an die Ereignisse.
Der Pariser Mai ’68 war kein singuläres Ereignis. In vielen Ländern - in den USA, in Westeuropa, auch in Osteuropa, in Lateinamerika und sogar in Japan - kam es 1968 zu Protesten von Studierenden. Es war die Reaktion auf überlebte Verhältnisse an Universitäten, in den jeweiligen Gesellschaften, auf die weltweiten Gefahren einer atomaren Konfrontation, auf die Unterdrückung Schwarzer in den USA und die Ausweitung des US-amerikanischen Krieges in Vietnam. Es war aber auch das Aufbegehren der Nachkriegsgeneration gegen das unbewältigte Erbe des Zweiten Weltkriegs, gegen Verstrickungen der Eltern- und Großelterngeneration in dessen Vorgeschichte.
In der ČSSR brach sich der »Prager Frühling« Bahn und wurde im August 1968 mit dem Einmarsch von Truppen der Warschauer Vertragsstaaten militärisch beendet. In China tobte die Kulturrevolution fort. Nach der Tötung von Che Guevara im Oktober 1967 in Bolivien, wurde im April 1968 in den USA Martin Luther King ermordet. Im gleichen Monat wurde auf Rudi Dutschke in Berlin ein Mordanschlag verübt.
Die 60er Jahre sind aber auch das Jahrzehnt gegenläufiger Entwicklungen. In den USA wächst der Kampf für Selbstbestimmung der schwarzen Bevölkerung und erlangt 1963 mit 250 000 Demons-tranten in Washington einen ersten Höhepunkt. Einer ihrer Vertreter - Martin Luther King - erhält 1964 den Friedensnobelpreis. Parallel dazu entwickelt und organisiert sich in den USA eine neue Linke. Ihre Positionen finden Eingang in massive Proteste von Studierenden gegen Vietnamkrieg und elitäre Zugänge zu den Hochschulen. Ähnliches entwickelt sich in anderen Ländern Europas. In Afrika erlangen eine Vielzahl ehemaliger Kolonien die Unabhängigkeit, junge Nationalstaaten betreten die Weltbühne. Ein Vorbote für die Organisation der Nichtpaktgebundenen.
Der Pariser Mai ’68 hatte seine Manifeste und Traktate. Sein Gesicht wurde geprägt von Losungen und insbesondere von Plakaten. Damit erlangte das politische Plakat eine neue, eigenständige und mobilisierende Qualität. Die einen trieb sie an. Die anderen schreckte sie ab.
Mit der Ausstellung »Empört euch! Mai ’68/Macht und Ohnmacht einer Utopie« holt das Münzenberg Forum Berlin vom 2. Mai bis zum 3. Juni eine große Zahl der Originalplakate vom Pariser Mai ’68 an den Franz-Mehring-Platz 1 und setzt diese in den Kontext ihrer Entstehung, Produktion, Verwendung und Wirkung.
Mit der Ausstellung im Foyer füllt das Münzenberg Forum Berlin eine Leerstelle, die die seit 1972 am Franz-Mehring-Platz erscheinende Tageszeitung »Neues Deutschland« in ihren damaligen Berichten zu den Entwicklungen in Frankreich im Frühjahr 1968 bewusst ließ, lassen sollte und auf Weisung auch musste.
Das Münzenberg Forum Berlin führt damit seine 2016 mit »Montage 16/Eine Heartfield-Grosz-Ausstellung« begonnene und mit »Kabinett Malik/100 Jahre Malik-Verlag« 2017 fortgesetzte Ausstellungsreihe zur intervenierenden politischen Agitationskunst des 20. Jahrhunderts an den Schnittstellen gesellschaftlicher Umbrüche weiter. Erneut begleitet von Münzenberg-Lektionen, zu denen auch die neue Reihe »Die rote Kulturcouch« mit Gastgeber Klaus Lederer (Berlins Kultursenator) und zwei jungen Musiker_innen aus Berlin gehört.
Nutzen Sie die Möglichkeit, 50 Jahre nach dem Pariser Mai ’68, diese Plakate erstmalig in Berlin zu sehen und Ihre eigenen Losungen zu formulieren. So wie es im Musiksaal von Nanterre, dem Geburtsort der Revolte, hieß: »J’aime écrire sur les murs!« (Ich liebe es, auf die Wände zu schreiben!»)
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