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  • Zum Tod von Elmar Altvater

Eine Weihnacht mit Marx

Zum Tod des einflussreichen linken Politikwissenschaftlers Elmar Altvater (1938-2018)

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 5 Min.

1961 muss ein Student der Soziologie und Ökonomie in München einsame Weihnachten verbracht haben. Geld, um zu den Eltern ins heimatliche Kamen im Ruhrgebiet zu fahren, gab es nicht. Geld für die Heizung auch nicht. Sein Vater war Bergarbeiter. Mit Jobs als Liegewagenschaffner und auf dem Bau waren keine großen Sprünge zu machen. Doch diese Weihnachten sollten für den 23-jährigen Elmar Altvater prägend werden.

Von einem linken Münchener Buchhändler war er überredet worden, die drei Bände des Marxschen »Kapital« zu lesen. Noch in der Ausgabe mit dem braunen Einband aus der DDR. Die waren billig zu haben. Die Lektüre über die Weihnachtstage war die Initialzündung für die außerordentliche intellektuelle Karriere Elmar Altvaters. Eine Lektion musste er gleich zu Beginn lernen: »Leider musste ich feststellen, dass Bertolt Brecht recht hatte, als er sagte, es sei teuer, Marx zu verstehen. Denn man muss viel Literatur dazukaufen, um ein guter Marxist zu werden«, erzählte Altvater im Gespräch mit »ZEIT Geschichte« und dem 2012 verstorbenen Norbert Walter, dem Chefvolkswirt der Deutschen Bank.

Dass ein sich selbst als Marxist bezeichnender von einer linksliberalen Wochenzeitung zum Gespräch mit einem Vertreter des Großkapitals gebeten wird, sagt viel aus über die Stellung, die sich der Politikwissenschaftler Altvater erarbeitet hatte. Nicht nur in linken und marxistischen Kreisen galt Altvater - im besten Sinne des Wortes - als Autorität, auch in Kreisen mit anderen Klasseninteressen nahm man seine Ansichten ernst.

Nach dem Studium in München war Altvater von 1968 bis 1970 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Erlangen-Nürnberg. Es war eine bewegte Zeit. Altvater soll der Ruf eines »Rudi Dutschke von Erlangen« vorausgeeilt sein. Als die 68er ihren Zenit überschritten hatten, kam Altvater in eines ihrer Zentren: nach Berlin. Er engagierte sich in der »Sozialistischen Assistentenzelle«, gründete die Zeitschrift »Probleme des Klassenkampfes« - heute Prokla - und war aktiv im Sozialistischen Büro, das seinen Sitz in Offenbach hatte und ein wichtiger Zusammenschluss der Neuen Linke war.

Zehn Jahre nach seiner ersten Marx-Lektüre wurde Altvater 1971 Professor für Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Dort sollte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 bleiben. Altvater gehört damit, wie der Journalist Mathias Greffrath einmal schrieb, zu der »Assistentengeneration« von 1968, die das Marxsche Werk für sich entdeckte und »mit - man ist versucht zu sagen, deutscher - Gründlichkeit den Historischen Materialismus von seinen stalinistischen Verballhornungen befreite und sein Kernstück, die Kritik der politischen Ökonomie, ›rekonstruierte‹«.

Diese Rekonstruktion schlug sich bei Altvater in einem stetigen Ausstoß von Büchern nieder. Ein Standardwerk der Globalisierungskritik ist das zusammen mit seiner Lebensgefährtin Birgit Mahnkopf 1996 veröffentlichte Werk »Grenzen der Globalisierung«, es erschien in sieben Auflagen.

Altvaters intellektuelle Neugier und seine regelmäßigen Reisen nach Südamerika sorgten dafür, dass er immer wieder neue Themen aufgriff. In seinem Herangehen blieb er freilich der Marxschen Methode verpflichtet. So widmete er sich Fragen der kapitalistischen Entwicklung, der Staatstheorie, der Entwicklungspolitik sowie der Schulden- und Finanzkrise und dachte über den Zusammenhang von Ökonomie und Ökologie nach. Insbesondere auf letzterem Gebiet setzte er Maßstäbe für die ökomarxistische und ökosozialistische Diskussion, die im angelsächsischen Sprachraum intensiver geführt wird als hierzulande. »Die ökologische Frage ist eine soziale Frage und die soziale Frage kann heute nur noch als ökologische Frage angemessen bearbeitet werden«, schrieb er 1992 in »Der Preis des Wohlstands«.

Die traditionelle sozialistische Linke hat diese Erkenntnis, wenn überhaupt, nur als Lippenbekenntnis angenommen. Bis heute denkt sie das Soziale und das Ökologische getrennt. Marxisten, die von der Entwicklung der Produktivkräfte reden, keynesianische Gewerkschafter, die staatliche Konjunkturprogramme fordern, blenden aus, dass die Produktiv- in Destruktivkräfte umschlagen können und mehr Wachstum mehr Naturverbrauch und Umweltverschmutzung zur Folge hat. In Altvaters Worten: »Ökonomische Prozesse sind Transformationen von Stoffen und Energien, die irreversibel sind und nicht - wie in der ökonomischen Theorie vorausgesetzt wird - in zirkulärer Form ablaufen.«

Auch politisch engagierte sich Altvater. Zunächst Mitglied der SPD, war er beim Gründungsprozess der Grünen Anfang der 1980er Jahre beteiligt. Die Verbürgerlichung der Grünen war für ihn kein Grund gewesen, die Partei zu verlassen. Damit hätte er leben und versuchen können, diesen Prozess von innen zu bekämpfen, sagte er in einem Interview. Er trat erst aus der Partei aus, als die Grünen den Krieg gegen Afghanistan mittrugen. Die Delegierten »haben sich von Fischer am Nasenring durch die Manege ziehen lassen. Und kaum jemand hat den Schmerz gespürt,« so Altvater. 2007 dann - gleichsam als letzte Alternative - der Eintritt in die Linkspartei, wo er in der Programmkommission aktiv war. Neben seinem Parteiengagement war er auch bei Attac aktiv. »Man muss auf beiden Hochzeiten - Politik und Zivilgesellschaft - tanzen«, sagte er einmal.

»Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen« sah er in dem gleichnamigen Buch von 2005 voraus. Das war hellsichtig. Drei Jahre später brach die globale Finanzkrise mit der Pleite der Bank Lehman Brothers aus. Ein Krise, die sich zu einer Weltwirtschaftskrise auswuchs. Für Altvater war sie nicht überraschend gekommen. Die Finanzialisierung des Kapitalismus und seine Krisenanfälligkeit waren schon immer Gegenstand seiner Analysen.

In seinem Gesprächsband mit Raul Zelik - hervorragend übrigens auch als Einführung in das Denken Altvaters geeignet - heißt es als entscheidenden Punkt für die »Vermessung der Utopie«: »Wir - neun Milliarden, die wir bald sein werden - können alle ein auskömmliches Leben haben, aber dafür müssen wir etwas tun und gleichzeitig vieles unterlassen. Wir müssen die Erde umgestalten, sie sozusagen ökologisch herrichten.« Was er damit meinte? Zuvörderst den Abschied von den fossilen Energieträgern und den Übergang hin zu einem Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Und dieser müsse »solar, demokratisch und solidarisch sein«.

Nun ist Elmar Altvater mit 79 Jahren in Berlin verstorben - am 1. Mai des Karl-Marx-Jahres. Die Linke, ob marxistisch oder weniger, verliert einen ihrer weltweit klügsten Köpfe.

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