Wo Maiglöckchen Glücksbringer sind
Barbara Thalheim erzählt eine unglaubliche deutsch-französische Liebesgeschichte und feiert den Tag der Arbeit landestypisch
Das alte Zentrum von Bry-sur-Marne, einer Kleinstkleinstadt zwölf Kilometer östlich von Paris, seift mich ein mit urfranzösischem Charme. Eine schmal ansteigende Straße mit kleinen Geschäften führt zur Mairie, dem Rathaus mit der obligatorisch gehissten Trikolore. Ich betrete die Boulangerie, kaufe ein besonders schmales Baguette (Ficelle, Faden genannt), halte das Brot in der Charcuterie nebenan über den Ladentisch und bitte darum, es dick mit Rillette de Lapin zu bestreichen. Mit meinem Rillette-Baguette bestelle ich im »Bar Tabac« einen Café Crême und verdrücke an einem der drei Tische vor der Kneipe mein Strippenbaguette mit Hasenfleischpastete. Neben mir vier Kanalarbeiter, sie kommen aus einem Schnellimbiss, gönnen sich in der Mittagspause schnell noch ein Bier. Zu ihnen gehört ein fünfter Mann, sehr jung, sehr schüchtern, sehr schwarz. Er steht einige Schritte entfernt von seinen Kollegen. Am Stehtisch ist kein Platz für ihn, den Muslim. Offensichtlich weiß er nicht, wie er sich ein Wasser oder einen Tee bestellen soll. Keiner seiner Kollegen merkt es. Mir fällt Goethe ein: »Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.«
Märchen halten für Orte wie diesen Dornenhecken bereit. Hier sind es grau genormte Betonquader, die die alte Stadt umschließen. Schlafplätze für die, die sich Paris nicht leisten können, aber dort arbeiten, so sie Arbeit haben. Willkommen in der Banlieue! Banlieue heißt Bannmeile. In allen französischen Banlieues zusammengenommen leben heute fast fünf Millionen Menschen. Nur wenige Kilometer vor Bry-sur-Marne entfernt vereinen sich die Flüsse Marne und Seine, um einer der schönsten Städte der Welt den letzten Schliff zu geben: »Paris, ein Fest fürs Leben«. Welchen Titel würde Hemingway seinem Buch heute geben?
Ich aber will noch nicht nach Paris. Mein Ziel heißt jetzt Noisy-le-Grand, eine Stadt mit 66 300 Einwohnern, nur wenige Kilometer von Bry-sur-Marne entfernt. Ich fahr dorthin, um Charlotte und Jean-Pierre zu treffen. Die Liebesgeschichten deutsch-französischer Paare, die ich seit dem Mauerfall kennengelernt habe, sind oft so drôle wie bizarr. Diese geht so: Charlotte, wohlbehütete Abiturientin aus Hannover mit schlechten Französisch-Noten, wird 1964 vom Schuldirektor persönlich, ihrem Vater, zum Zug nach Paris gebracht, wo sie ihre Sprachkenntnisse aufbessern soll. Jean-Pierre indessen, IT-Fachmann und Angestellter eines französischen Unternehmens, das in den 60er Jahren mit der DDR gute Geschäfte macht, unternimmt in ebendieser Zeit mit fünf Kollegen eine Städtereise durch die DDR. Exotischer ging es kaum für den jungen Mann. Der Reiseleiter des DDR-Jugendreisebüros sprach perfekt Französisch. Jean-Pierre fühlte sich wie ein ins Wasser geworfener Schwamm: Am Ende der Reise konnte er keine Information mehr aufnehmen, sonst wäre er untergegangen.
Beim Abschied auf dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße - der Zug von Moskau nach Paris war bereits eingefahren - bemerkte der Reiseleiter, dass er die Fahrkarten und Pässe der Franzosen im Büro vergessen hatte. Kurzum: Der Zug fuhr ohne sie ab. Ein Drama. Denn nun waren die Visa abgelaufen. Plötzlich zeigte sich die DDR von ihrer weniger charmanten Seite.
Am nächsten Tag klappte die Rückreise. Der Reiseleiter aber machte sich aus dem Staub. Er hatte keine Devisen auftreiben können, um neue Billetts zu kaufen, und ließ die Franzosen im Glauben zurück, ihre Karten wären auch für diesen Zug gültig. Bis Hannover ging alles gut. Sie hatten sich auf die Plätze ihrer verfallenen Karten gesetzt. Dann aber kamen fünf deutsche Frauen mit gültigen Platzkarten in das Abteil. Unter ihnen die 18-jährige Charlotte, die zu schüchtern war, sich in den heftigen Streit einzumischen, den die Franzosen wegen ihrer ungültigen Karten mit dem Zugführer hatten. Als der Zug nach über neun Stunden in Paris ankam, saßen fünf Franzosen und fünf deutsche Frauen eng aneinandergequetscht in dem Abteil mit sechs Plätzen. Vier davon wurden Paare und heirateten noch im selben Jahr, darunter Charlotte und Jean-Pierre.
Am 1. Mai zieht es mich zum Rathaus von Noisy-le-Grand zur Demonstration. »Demonstration?« Charlotte lacht. »Komm, ich zeige dir, was wir hier am Tag der Arbeit machen.« Wir fahren in die City. Schon auf dem Weg dorthin werden an jeder Straßenecke Maiglöckchen verkauft. Symbol wofür? Für den Frühling? Die Arbeiterbewegung? »Für Franzosen sind Maiglöckchen Glücksbringer«, sagt Charlotte. »Fahr nach Paris, wenn du willst, da sind die großen Demos. Aber ohne mich.« Wir kaufen zehn Sträußchen Maiglöckchen, verschenken sie an Passanten und beobachten, wie sie die Glücksbringer weiterverschenken. Das macht Spaß.
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