- Kultur
- Literaturkritik
Betroffen sein!
Eine kleine angerissene Spintisiererei über ein deutsches Nationalheiligtum
Das Thema macht mir schlechte Laune. Ernst erzeugt sich selbst, verbreitet sich dominant, er verschluckt alles andere, duldet keine anderen Daseinsformen neben sich. Seien Sie mal ernst auf einem Rockkonzert, kein Problem. Aber seien Sie mal fröhlich und entspannt bei einer Paulskirchenrede. Machen Sie mal einen Spaß mit dem Busfahrer.
Der Ernst hat uns fest im Griff. Ich habe eine spanische Freundin, die lacht gerne und sagt: Die Deutschen sind solche Kartoffeln! Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was damit alles gemeint ist, nein, stopp, falsch: Womöglich KANN ich es gar nicht. Kann es nicht denken. Vermutlich sind mir all die Dimensionen an Spaß, Hintergründigkeit und Feinsinn anderer Völker unzugänglich. (Ooops! »Völker« gesagt! Vorwurfsvolle Blicke.)
Auf einem Spaziergang habe ich meiner spanischen Freundin mal das Nibelungenlied erzählt, unser Nationalepos, Mord und Hass und Gemetzel bis zum bitteren Endmassaker. Am Ende sterben alle, weil es jemand gewagt hat, ein winziges bisschen Esprit zu zeigen: Mit ihrer Tarnkappe legen Siegfried und Gunter die stolze Brunhild rein, sie erlauben es sich, wenn auch auf recht stumpfe Weise, Regeln spielerisch zu umgehen. Die Rache ist furchtbar, das blutigste literarische Massaker seit der Bibel. Ich erzähle das meiner spanischen Freundin, während wir über Land radeln. Sie steigt vom Fahrrad und singt den Kühen ein Lied vor. Ich fühle mich so unglaublich - kartoffelig.
In Deutschland, banane dictu, ist selbst der Humor ernst. Einmal im Jahr rottet er sich zu Heerzügen zusammen und marschiert durch die Innenstadt. Aber das ist nur die laute Seite des Horrors.
Neulich bin ich auf einer Lyriklesung gelandet. Um die Lyrik herum war auch noch Prosa verteilt, und schon die Prosa machte einem unfassbar schlechte Laune. Wieder mal hatte sich wer ganz tief in irgendwelche historischen Grausamkeiten hineingebohrt, hatte daraus eine Wertschöpfung für sein Buch gemacht. Historische Grausamkeiten sind immer gut, da begreift auch der Deutsche, welche emotionale Saite gerade angeschlagen wird, es rutscht kein Po auf dem Zuhörerstuhl, alle schauen ganz gebannt ins Leere, wie eine Schulklasse, die gerade nach Kräften ausgeschimpft wird.
Dann kam noch eine andere Prosa, die Übersetzerin las. Ich kannte das Buch, es war grundsätzlich natürlich ein Schicksalsbuch, aber doch so bunt, so abwechslungsreich, so voller pulsierendem Leben. Die Übersetzerin aber las. Satz. Für. Satz. So.
So semidepressiv. Schlecht geschäumter Cappuccino, der nach Spülmittel schmeckt. Sorry, ihr wisst doch, dass ich gerade keine gute Phase habe! Richtig schlimm war dann die Lyrik. Ich meine: Lyrik! Wie dicht und virtuos, wie prall, wie rhythmisch kann und sollte die sein! Hier aber saßen ein Lyriker und eine Lyrikerin vor uns, und sie waren in irgendwelchen alten Gemäuern gewesen, oder sie waren irgendwo am Strand gewesen, Möwen!, und es war eigentlich auch egal, wo sie gewesen waren, es ertrank in diesem trüben deutschen Immergleichton, der einem schon beim Zuhören schlechtes Gewissen macht. Nach zwei, drei Zeilen wollte man zusammenbrechen und gestehen: Ich bin schuld! Egal an was.
Das Publikum rührte sich nicht. Sie saßen, wie durch den Nabel festgeschraubt, auf ihren Klappstühlen, sie starrten ausdruckslos vor sich hin. Niemand schien hier Spaß zu haben. Sie waren in die Betroffenheitsfalle gegangen.
Betroffenheit rules, sie ist die Königsdisziplin, und ihre strenge Herrscherin heißt Marietta Slomka. Egal was passiert, egal, wer was wo warum getan hat, Marietta moderiert es an, immer mit diesem vorwurfsvollen Ton in der Stimme, immer mit ihrem hellblauen Brunhildenblick, mit dem sie uns ihre ganze Enttäuschung spüren lässt. Wieso, Kinder, tut ihr mir das an, dass ich jeden Abend so viele schlimme Sachen vorlesen muss?
Betroffenheit ist sakrosankt wie religiöse Gefühle. Kein Literaturpreis ohne schwere Geschichte, gerne mit Naziopas, gerne mit DDR-Opfern. Erzeugst du Betroffenheit, ist dir Aufmerksamkeit sicher. In anderen Weltgegenden müsstest du vielleicht witzig, also: geistvoll sein, um ernst genommen zu werden, da gibt es noch einen ganzheitlichen Anspruch ans Denken. Nicht so hier, im Land der Eindeutigkeit, näher, mein Gott, zu dir! Lass alle Zweifel, alle Zwischentöne in die Hölle sinken. Eine gute Freundin der Betroffenheit ist das Pastorale, das Staatstragende. Die stille Übereinkunft, dass die Rede da vorne etwas Bedeutsames, nahezu Heiliges zu sein habe. Ohne das kann in Deutschland keiner was werden. Es ist ein Spiel, das alle mitspielen. Sie ziehen sich blank geputzte Schuhe an, sie fahren im Taxi vor, und dann lassen sie sich von der Erhabenheit des Moments anwehen. Einmal habe ich Sloterdijk sprechen hören, in München, in einem hochpolierten Saal, von wichtigen Wichtigmenschen eingeladen und kuratiert.
Und was Sloterdijk bot, war zum Totlachen. Es war wirklich witzig. Er hatte einen Film gesehen, oder vermutlich eher nicht, aber er hatte in Feuilletons darüber gelesen, und in dem Film war viel explodiert, und es waren wohl auch Schauspieler unter viel Kunstblutgespritz den Schauspielertod gestorben. Und jetzt stand Sloterdijk da, alles lauschte gebannt zwischen antikisierenden Statuen der Münchner Universität, und er postulierte eine neue »Religion der Explosion«, die unter den nachwachsenden Generationen grassiere. Er konnte noch nicht mal den Namen des Films korrekt zitieren. Alle saßen andächtig da. Niemand lachte. Wenn irgendwo in Deutschland etwas Grausames passiert oder wenn man an etwas anderes Grausiges irgendwo anders auf der Welt gemahnen will, dann gehen die Leute los, legen Blumen hin, stellen ein paar Windlichter daneben. Und mit großer Sicherheit steht dann auch wieder ein WARUM?-Schild dabei. Das Warum-Schild hat ein Typ gemalt, über den ich schon vor vielen Jahren eine Fernsehdoku gesehen habe. Es ist immer derselbe Typ, er malt immer ein Warum-Schild, dann fährt er von seinem Kaff zur Unglücksstelle, und dann stellt er sein Warum-Schild auf. Warum? Weil ostentative Betroffenheit das sicherste Mittel ist, Aufmerksamkeit zu generieren. Dankbar wird das Schild immer mitgefilmt und abgeknipst, und froh ist man in den Redaktionen, dass man dem Leser diese bedeutende Frage mit auf den Weg gegeben hat. Sonst wären da ja nur Blumen, so aber ist das Bild viel leichter lesbar.
Schade nur, dass die Frage nach dem Warum dann auch im Kasten und erledigt ist. Warum gibt es Terrorismus? Massaker? Warum gibt es Morde an Kindern? Wieso, weshalb. Da müsste man jetzt ein bisschen bohren, ein bisschen hingucken, und es wäre auch wichtig, das zu tun. Aber da müsste man ja herleiten, woher die Gewalt in der Menschengesellschaft kommt, und das könnte komplex sein und könnte auch richtig unangenehm werden. Zum Beispiel ist der Hauptanlass für Terroranschläge gegen den Westen der, dass die Terroristen sich eine möglichst ausufernde, möglichst betroffene Berichterstattung wünschen, das ist ja deren PR. Hapuh, wenn die Medien das jetzt analysieren würden! Lieber nicht. Lieber betroffen sein. Das schütteln die aus dem Ärmel.
Ja, so viel also zur Lyrik.
Es schloss sich da dann auch noch eine Facebookdebatte an. Ich hatte, um das Trauma auszukotzen, der Gemeinde in ein paar knappen Worten von der Versefolter berichtet. Ein Bekannter von mir, selber Autor, versuchte, sehr anständig, die Lyriker in Schutz zu nehmen. Sie würden halt ihren Vortrag freihalten wollen von Interpretation. Daher quelle dann diese unglückliche Art von Nichtbetonung aus ihnen heraus.
Aber: Was wäre denn damit geklärt? Denn was ist das für ein Anspruch, wo kommt er her? Warum schreibe ich ein Gedicht, wenn ich nicht berührt bin von der Welt? Warum will ich meiner Berührung nicht nachspüren, ihr keinen Ausdruck verleihen? Es ist, als ob die Angst vor echten, wilden Gefühlen oberste Bürgerpflicht wäre. Denn Gefühle gefährden unsere rechtschaffen behagliche Ordnung, in der wir jede Mauer und jede Hecke gut kennen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!