Kleine Schritte der Versöhnung

Barbara Thalheim über das Verhältnis der Franzosen zu Speisekarten und wie sie den 8. Mai in Oradour-sur-Glane beging

  • Barbara Thalheim
  • Lesedauer: 3 Min.

Limoges, ein Wort, das auf der Zunge zergeht, bevor die dritte Silbe dran ist. Limoges erinnert an den Geschmack von Kümmel-, Zitronen- und Orangenöl in gut sortierten Küchen. Aber Limoges, im Département Haute-Vienne, in der Region Nouvelle-Aquitaine, ist eine 130 000-Einwohner-Stadt im Südwesten Frankreichs.

Ich sitze vor der die Stadt von jedem Punkt aus überragenden Kathedrale »Saint-Étienne« und beobachte vier Männer in weißen Mönchskutten, die sich um einen Mann gruppieren, der gegen den Wind Bauzeichnungen aufzufalten versucht. Dabei zeigt er auf Dachvorsprünge und Tennen des 24 Meter hohen, bereits 1273 begonnenen sakralen Bauwerkes. Seine Zeichnungen flattern über den Place de la Cathédrale. Sicher muss Gott jetzt lachen - falls sein Augenmerk gerade auf Limoges gerichtet ist -, weil er sieht, wie die Mönche, als wären sie Comiczeichnungen entstiegen, auf dem Platz hin und her springen und nach den Papieren haschen wie Kinder nach Luftballons.

Abends bin ich im Restaurant »Les Tables du Bistro« verabredet. Ein Wortspiel. In diesem Fall mit Tischen (Tables) und Kuhstall (L’étable). Ausgesprochen klingt beides gleich. Und wirklich: Das Restaurant in einer alten Scheune auf zwei Etagen außerhalb der Stadt war ein riesiger Kuhstall. Der Gast kann am Eingang »Châtaigne« (Kastanie), einer geschniegelten braunen Kuh und ihrem Kalb sowie anderen Tieren, von Scheinwerfern gut in Szene gesetzt, beim »Abendmahl« zuschauen. Hinter Glas versteht sich.

Wieder einmal staune ich über die Ernsthaftigkeit, mit der Franzosen trotz knurrender Mägen tief greifende Diskussionen über Speisekarteninhalte führen. Ich schließe die Augen und tippe unter dem Aufschrei meiner Freunde mit dem Finger auf irgendein Gericht. Und wie meistens in Frankreich - es schmeckt.

Morgen ist der 8. Mai. Seit ich sprechen kann, das heißt noch bevor ich zu denken begann, ist dieser Tag für mich, die Tochter eines KZ-Inhaftierten, der Tag der Befreiung vom Faschismus. Genau das richtige Datum für den Besuch des »Märtyrerdorfes« Oradour-sur-Glane, das in Frankreich jeder kennt.

Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 erhielt die in Südwestfrankreich stationierte 2. SS-Panzer-Division »Das Reich« den Marschbefehl, die anrückenden Alliierten aufzuhalten. Als Vergeltung für den auch außerhalb der Résistance stark gewachsenen Widerstand gegen die deutschen Besatzer beging die SS massive Kriegsverbrechen an der französischen Bevölkerung. In Oradour-sur-Glane wurden am 10. Juni 1944 642 Dorfbewohner, davon 245 Frauen und 207 Kinder, ermordet. Oradour-sur-Grane ist wohl das einzige Dorf der Welt, in dem bis auf eine Handvoll Überlebender alle Bewohner den gleichen Todestag haben. General Charles de Gaulle verfügte, die Ruinen des niedergebrannten Dorfes als Denkmal zu bewahren. Kein Foto, keine Artikel, kein Film kann heute die Emotionen vermitteln, die einen nicht über-, nein, anfallen, wenn man selbst durch das Ruinendorf geht. Alles, was erhalten ist - was nicht brennt: Stein, Metall, Erde -, spricht zu uns, den Nachgeborenen. Nur ein Schuldiger kam in Deutschland vor Gericht (obwohl alle Schuldigen namentlich bekannt sind): der SS-Mann Heinz Barth, Zugführer im SS-Panzergrenadier-Regiment 4. Nach dem Krieg ging der Mann zurück in seinen Heimatort Gransee in der DDR. Er lebte unbescholten mit seiner Familie, die keine Ahnung von seiner Vergangenheit hatte, als er 1983 wegen des Massakers in Oradour-sur-Glane verhaftet wurde. Man überführte und verurteilte ihn zu lebenslänglich. Jedoch wurde er in den 1990er Jahren aus Gesundheitsgründen aus der Haft entlassen. Ich stelle mir kurz vor, die Tochter dieses Mannes gewesen zu sein. Und ahne: Ein einmal geführter Krieg geht nie vorbei.

Auf dem Friedhof von Oradour gibt es noch Grabmäler mit der Inschrift »Ermordet von den Deutschen.« Aber einige französische Opferfamilien haben die Inschriften auf den Gräbern ändern lassen. »Ermordet von der SS« oder »von den Nazis« steht darauf. Die Schritte hin zu Versöhnung sind klein.

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