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Der unbekannte Vorsitzende
Realpolitischer Revolutionär: der KPD-Funktionär Ernst Meyer
Ernst Meyer ist zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten. Denn er war einer der herausragenden Akteure auf dem linken Flügel der deutschen Arbeiterbewegung im frühen 20. Jahrhundert: Er spielte eine zentrale Rolle in der Vorgeschichte des deutschen Kommunismus, also in der linksradikalen Antikriegsopposition im Ersten Weltkrieg, in seiner Sturm- und Drangphase der Jahre 1918-23, bei den Versuchen, im nichtrevolutionären Umfeld der stabilisierten Weimarer Republik eine revolutionäre Realpolitik zu entwickeln, und in den Auseinandersetzungen um die Stalinisierung der KPD in den späten 1920er Jahren. (…)
Meyers politisches Leben war von Höhen und Tiefen gekennzeichnet. So musste er die entfesselte Barbarei des Ersten Weltkrieges ebenso miterleben wie die ihm als Verrat an allen Prinzipien geltende Zustimmung der SPD zu den kaiserlichen Kriegskrediten und den anschließenden Zusammenbruch der Zweiten Internationale. Er gehörte zu der Handvoll Revolutionäre, die sich die große Aufgabe des Aufbaus einer neuen Partei und einer revolutionären Beendigung des Krieges stellten.
Florian Wilde, Jahrgang 1977, ist Historiker und arbeitet als gewerkschaftspolitischer Referent im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sein Buch »Revolution als Realpolitik« über den früheren KPD-Vorsitzenden Ernst Meyer erscheint dieser Tage in der UVK Verlagsgesellschaft. Ernst Meyer (1887 bis 1930) stand zweimal in den 20er Jahren an der Spitze der KPD und prägte die kommunistische Bewegung in Deutschland maßgeblich. Er geriet in die innerparteilichen Flügelkämpfe und unterlag schließlich Ernst Thälmann, der die verschärfte Auseinandersetzung mit der SPD unter der Losung des »Sozialfaschismus« führte. In der Geschichtsschreibung wurde Meyer bisher wenig beachtet. Wir veröffentlichen hier eine Passage aus Wildes Buch.
Florian Wilde: Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887-1930) - Biographie eines KPD-Vorsitzenden. UVK Verlagsgesellschaft, 452 Seiten, 29 Euro. Foto: Rico Prauss
Der mühe- und schmerzvolle Weg, den sie gingen und der bald einige seiner engsten Freunde und Weggefährten das Leben kosten sollte, wurde zwischenzeitlich von großen Erfolgen gekrönt: Aus dem winzigen Häuflein, das sich am Abend des 4. August 1914 in der Wohnung Rosa Luxemburgs traf, entwickelte sich binnen weniger Jahre eine neue Massenpartei mit hunderttausenden Anhängern. Es entstand tatsächlich eine neue Internationale, die Kommunistische, mit ihrem Gravitationszentrum in Sowjetrussland, dem ersten sozialistischen Staat der Geschichte.
In unterschiedlichem Maße konnte Meyer zu verschiedenen Phasen der kommunistischen Bewegung seinen Stempel aufdrücken. Dies galt bereits für die Monate vor der Novemberrevolution 1918, als er die Spartakusgruppe leitete, und insbesondere für die Zeit zwischen dem Jenaer und dem Leipziger Parteitag (August 1921 bis Januar 1923), als er an der Spitze der KPD stand.
Sein augenscheinlichster Verdienst als Vorsitzender war die Konsolidierung der damals noch sehr jungen Partei. Sie war erst zweieinhalb Jahre zuvor gegründet und erst acht Monate zuvor zu einer Massenpartei geworden. Nach dem katastrophalen Ausgang der Märzaktion von 1921 hatte die zerstrittene KPD in einer tiefen Krise gesteckt. In den zwölf Monaten nach dem Jenaer Parteitag konnten weitere größere Abspaltungen vermieden, die zuvor massiven Mitgliederverluste gestoppt und sogar 44.000 neue Mitstreiter gewonnen werden. Der kommunistische Einfluss in den Gewerkschaften, aber auch bei Wahlen, stieg deutlich an.
Die KPD konnte unter Meyer ihre Identität als jene Massenpartei entwickeln und festigen, die sie bis zum Ende der Weimarer Republik bleiben sollte. Er trug zu dieser Konsolidierung vor allem auf zwei Ebenen bei: zum einen durch seinen ausgleichenden und integrativen Führungsstil, der es der Partei ermöglichte, trotz aller Heterogenität (verschiedene Flügel, unterschiedliche politische Erfahrungen der Mitglieder aus den Quellparteien KPD und USPD) eine gemeinsame politische Praxis zu entwickeln. Zum anderen setzte er eine Veränderung der Beziehungen der KPD zu der nichtkommunistischen Mehrheit der Arbeiterschaft mittels der Einheitsfrontpolitik durch.
Erneut stand Meyer - nun neben seinem Gegenspieler Thälmann - im Jahr 1927 für einige Monate an der Spitze der KPD und hatte noch einmal prägenden Einfluss auf ihre Politik. Auch in dieser Zeit wuchs die Partei, steigerte ihren Einfluss und festigte ihre Substanz durch intensive Bildungsarbeit, gerade auch auf dem ihm so wichtigen Feld der Parteigeschichte. Meyers Beitrag zu einer positiven Entwicklung lag auf den gleichen Gebieten wie schon 1921/22: Sein Führungsstil förderte die strömungsübergreifende Zusammenarbeit in der Parteiführung und es gelang ihm, erneut seine Einheitsfrontpolitik durchzusetzen.
Rosa Meyer-Leviné schreibt, die Geschichte habe bewiesen, dass es ohne Meyer »niemals eine reibungslos funktionierende kommunistische Partei in Deutschland gegeben hat«. Auch wenn dies übertrieben ist, zumal es auch unter Meyer zu teils heftigen Reibungen mit den verschiedenen Flügeln kam, so ist Meyer doch eine der bedeutendsten Führungsfiguren des deutschen Kommunismus im frühen 20. Jahrhundert. (...)
Die noch junge KPD sah sich vor der Herausforderung, eine den deutschen Verhältnissen angemessene Form kommunistischer Politik entwickeln zu müssen. Der aus den Revolutions- und Bürgerkriegserfahrungen der Jahre 1918-20 geborene, in einem mittlerweile veränderten politischen Umfeld aber völlig aussichtslose Aufstandsversuch der Märzaktion 1921 war ebenso Ausdruck dieser Suche wie die als Reaktion auf ihn entwickelte Einheitsfrontpolitik. Meyer war 1921/22 an dieser Suche führend beteiligt. An dem »Irrsinn der Märzaktion« und an der Entwicklung der ihn begründenden und rechtfertigenden »Theorie der Offensive« hatte er ebenso wichtigen Anteil wie an der Abkehr von diesem Kurs und der Entwicklung und Umsetzung der Einheitsfrontpolitik.
Hier zeigte er eine hohe Bereitschaft, einmal vertretene Positionen zu überdenken und
zu revidieren, ohne das prinzipielle Ziel kommunistischer Politik, die sozialistische Revolution und die Eroberung der politischen und ökonomischen Macht durch die Arbeiterklasse, aus den Augen zu verlieren. Die Einheitsfrontpolitik erwies sich für Meyer als die einem nichtrevolutionären Umfeld angemessene Form kommunistischer Realpolitik. Für den Rest seines Lebens blieb er ihr glühender Verfechter, gegenüber dem Kurs der ultralinken Fischer/Maslow-Zentrale 1924/25 ebenso wie gegenüber dem erneuten ultralinken Kurs der Führung unter Thälmann ab 1928.
Die Weiterentwicklung und Anwendung der auf dem III. Weltkongress der Komintern 1921 verabschiedeten Einheitsfrontstrategie ist Meyers originellster Beitrag zur kommunistischen Theorie und Praxis. Bei der Einheitsfront handelt es sich um das Konzept einer revolutionären Realpolitik, also den Versuch, in einem nichtrevolutionären Umfeld eine massenwirksame revolutionäre Politik zu betreiben. Wenn die unerlässliche Voraussetzung einer Revolution die Gewinnung proletarischer Mehrheiten für den Kommunismus ist (und hierin war Meyer unbedingt ein Schüler Rosa Luxemburgs), diese Mehrheiten aber noch der reformistischen Sozialdemokratie folgen, so musste die KPD nach Wegen suchen, sie von der SPD zu lösen.
Als effektivstes Mittel hierfür sah Meyer die Einheitsfrontstrategie. Hier bildeten der Kampf für konkrete Verbesserungen und Reformen (oder auch die Abwehr von Angriffen der Unternehmer auf soziale Errungenschaften oder der extremen Rechten auf die parlamentarische Demokratie) und die Perspektive einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft keinen Gegensatz, sondern eine innere Einheit. Unerlässliche Voraussetzung ihrer erfolgreichen Anwendung blieb, dass die Kommunisten organisatorische Unabhängigkeit und die Freiheit zur - auch öffentlichen Kritik - an ihren Bündnispartnern behielten.
Wie wenig Meyer zum Dogmatismus oder zum Opportunismus neigte, zeigt sich in der Frage der Arbeiterregierung. Die Strategie eines gemeinsamen Kampfes der Arbeiterparteien für konkrete Forderungen musste notwendig die Frage aufwerfen, welche Regierung diese schließlich umsetzen sollte. Meyer wich dieser Frage nicht aus, sondern versuchte, Antworten zu finden, die sowohl dem Ziel entsprachen, Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus durchzusetzen, als auch dem kommunistischen Ziel der radikalen Überwindung dieser Gesellschaftsformation.
Meyer lehnte in diesem Zusammenhang eine langfristige Strategie von Regierungsbeteiligungen ab, die auf eine schrittweise Überwindung des Kapitalismus durch Reformen abzielte. Eine solche schien für ihn auf eine Integration in den Kapitalismus, eine Politik des Stellvertretertums und damit auf die Aufgabe der revolutionären Perspektive überhaupt hinauszulaufen. Zugleich verwarf er aber auch die vom linken Flügel der KPD vertretene Annahme, unter einer »Arbeiterregierung« dürfe nichts anderes verstanden werden als die Diktatur des Proletariats. Ihm galt die Arbeiterregierung hingegen als eigenständiges Element einer sozialistischen Transformationsstrategie: Vor dem Hintergrund sich zuspitzender Klassenkämpfe und einer Offensive des Proletariats könne eine solche Regierung dazu beitragen, die Bourgeoise zu schwächen. Dafür müsse sie sich nicht nur auf das Parlament, sondern vor allem auf Organe der Arbeiterschaft stützen und diesen gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Sie könne auch die Macht faschistischer Organisationen brechen und die Stellung der Arbeiterklasse deutlich stärken, etwa indem sie eine Produktionskontrolle durch die Arbeiterschaft, eine Erfassung der Sachwerte und drastisch höhere Steuern für die Bourgeoisie durchsetze, die faschistischen Organisationen ent- und die Arbeiterschaft bewaffne. Auf diese Weise könne eine kommunistische Regierungsbeteiligung als ein Sprungbrett zur Rätedemokratie und zum Sozialismus fungieren. (...)
Mit Meyers Niederlage in den innerparteilichen Auseinandersetzungen 1929 wandte sich die KPD endgültig von der Einheitsfrontpolitik ab. Die ultralinke, in der »Sozialfaschismus-Theorie« gipfelnde Politik der Thälmann-Führung versperrte den Kommunisten den Weg, die sich durch die Weltwirtschaftskrise eröffnenden Möglichkeiten zu nutzen. Sich selbst isolierend, gelang es ihr nicht, einen sozialistischen Ausweg aus der Krise als realistische Perspektive anzubieten und proletarische Mehrheiten für ihre Politik zu gewinnen.
Durch die Dämonisierung der SPD als Hauptfeind machte sich die KPD mitschuldig am Nichtzustandekommen eines gemeinsamen Abwehrkampfes gegen die faschistische Bedrohung. Bis zu seinem Tod versuchte Meyer, diese Entwicklung aufzuhalten, indem er sich für eine Rückkehr zur Einheitsfront einsetzte und der leichtfertigen Gleichsetzung der SPD mit dem Faschismus entgegentrat. Früher als die meisten seiner kommunistischen Zeitgenossen hatte Meyer explizit die Notwendigkeit betont, die bürgerliche Demokratie bei aller radikalen Kritik an ihr gegen Angriffe von rechts zu verteidigen. (...)
Meyers Ansichten lagen konträr zur Entwicklung, die die KPD schließlich nahm. Dennoch konnte er viele Jahre lang in der engsten Führung der Partei wirken und ihren Kurs mit prägen. Meyer steht damit nicht alleine, sondern stellvertretend für tausende kritische Marxisten, die - oft aus der Vorkriegssozialdemokratie kommend - ähnliche politische Vorstellungen vertraten. Dass sie sich nicht durchsetzen konnten, war das Ergebnis konkreter historischer Prozesse, dessen wichtigster - die schwer zu durchschauende bürokratische Erstickung der Russischen Revolution - außerhalb ihres Einflussbereiches lag. Der Blick auf Akteure wie Meyer kann helfen, das Potenzial alternativer Entwicklungspfade der kommunistischen Bewegung besser zu erkennen.
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