Herrenloses Hirn

Das Burgtheater Wien gastiert mit »Die Welt im Rücken« von Thomas Melle, Jan Bosse und Joachim Meyerhoff

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Es wird viel genölt, weniger geliebt. Das Theater biegt sich unter Quotenstress, steht starr im Gendergedröhn, geriet unter die katholizistischen Einkläger von irgendwas Politischem und Moralischem. Es ist ätzend, dieses Mundwerk derer, die schon beim ersten Blick aufs Geschehen die Summe kennen und kredenzen. Die doch selber so ratlos sind, schwingen am selbstsichersten irgendwelche Gebotstafeln. Auf Bühnchen, die nun wahrlich nicht die Welt bedeuten.

Schön: für Stunden in einer Schauspieler-Schöpfung zu versinken! Und den intelligenzmageren Konzeptblick zu vergessen! Denn wer genau sagen kann, was er im Theater erwartet, der will etwas sehen, was er schon kennt - wie sonst könnte er dieser Erwartung Worte geben? Wir haben jene gelöste Leere und Offenheit verlernt, die uns heimsuchen sollten, wenn wir uns der Kunst nähern.

Hier spielen Viele (ja, alles Männer, weiße zudem!). Der eine atmet etwas schwer und irgendwie verhemmt, der andere lauert, der nächste wütet. Der da grient, und dort - weint da nicht wer? Immer geht einer gerade zugrunde, und immer erwacht einer zu losbrausendem Leben. Die Körper verbarrikadieren sich quasi in sich selber oder aber jagen durch die Raumdiagonale.

Sie stolpern oder stürzen, biegen sich oder schnellen auf. Jetzt versucht sich einer als Majestät, im nächsten Moment krümmt sich an gleicher Stelle ein Elendsbündel. Der eine rutscht auf großer Bühne verloren zusammen, ein anderer beschimpft rampennah das Publikum, das sich jede Beleidigung gefallen lässt. Das zuckt und zappelt und zetert. Viele, viele, viele.

Und doch sind sie alle nur einer, denn nur ein einziger Schauspieler treibt sich da durch sämtliche Spielarten der Euphorie, der Verzweiflung: Joachim Meyerhoff. Ein Berichterstatter von physisch-psychischen Belagerungszuständen. Drei Stunden Solo: »Die Welt im Rücken«, Momente aus dem gleichnamigen Buch von Thomas Melle, Regie: Jan Bosse (Bühne: Stéphane Laimé) - der Beitrag des Burgtheaters Wien zum Theatertreffen. Szenen aus dem Innenraum eines »herrenlosen Hirns«, Erfahrungsfetzen eines »Fehlexemplars«. Melle erzählt seine bipolaren Störungen, seine manische Depressivität, dieses Einstürzen der Wände zwischen Sein und Schein. Einmal legt sich Meyerhoff über einen Kopierer, tackert die Papierblätter mit seinen Körperteilen an eine Leiter, kreuzigt sich. Er ächzt und stirnblutet und resümiert das Erfahrungsextrem: Hitler habe am Ende geglaubt, »er sei ich«.

Schauspieler! Spielen bis zum Umfallen - sonst fällt man schon vorher um. Auf eine Art und Weise spielen, dass noch das Umfallen als Spiel zählt. Meyerhoff! Höchster Entladungsgrad, aber abgefedert und ausgehalten mit einem glanzvoll nervösen Flattern der Augen, der Hände. Er spannt einen Wollfaden kreuz und quer über die Bühne. Gefangen im Netz. Später werden Bühnenarbeiter eine Art Kunststoffblase aufhängen, unter beflissen-hektischen Anweisungen Meyerhoffs, die aber stur ignoriert werden. Theater im Theater. Witz im Wahn, Humor im Höllengrund.

Unzählige Tischtennisbälle klacken und fliegen: das Weißflirren der Nervosität, die Springflut des Unberechenbaren.

Meyerhoff gelingt eine hochpulsige Erzählung über die wehe, wilde Dünnhäutigkeit des fürchterlich verlorenen und verunsicherten Menschen. Einmal sagt der Erzähler, nicht er, sondern »das Wesen der Dinge gehört ins Krankenhaus«. Krankheit? Vor allem Spiegel-Spiel: Sieh diesen Ver-Rückten und prüfe, wie oft du selber dich - wuselnd, wirksüchtig, werktätig im Übermaß und jede Torheit fürchtend - doch lebend nur tot stellst, um nicht gewahr zu werden, wie es wirklich um dich steht.

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