»Vorsicht! Die Sachsen kommen!«

Jahr für Jahr - immer wieder campen in Nonnevitz auf Rügen

  • Jörg-Thomas Wissenbach
  • Lesedauer: 3 Min.

In der geografisch recht übersichtlichen DDR entwickelten sich eben auch überwiegend distanzbegrenzte Urlaubsträume. Diese sahen im Winter oft einen Skiurlaub in den Mittelgebirgen vor, wobei aus heutiger Erinnerung die Lagen über 500 Meter von Weihnachten bis Ostern schneesicher waren. Und im Sommer hatten viele den Traum vom Camping an der Ostsee. So konnte man naturverbunden und minimalistisch ausgerüstet systemimmanent improvisieren, musste aber schon beizeiten aktiv werden, um vom Campingzentrum Ostsee in Stralsund eine Zuweisung für einen der Campingplätze an der Ostsee und den Boddengewässern zu ergattern. Auch Urlaubsträume wurden nämlich zentral geplant und gelenkt.

Als Student einmal mit dem Fahrrad rund um Rügen mit jeweils nur einer oder zwei Übernachtungen unterwegs, hatte ich die wichtigsten Strandabschnitte abgelaufen und auf der Rügenkarte bei Nonnevitz/Bakenberg ein großes Ausrufezeichen gemacht - quasi als Symbol für Traumstrand!

Als junge Familie wurden wir jedoch zunächst nach Poel und zum Darß gelenkt, ehe es 1989 erstmals mit einem Zeltschein für Nonnevitz direkt am Nordstrand von Rügen klappte. Im Trabianhänger lagen neben einem kleinen Steilwandzelt nun auch Campingtisch, Stühle und ein Gaskocher. Obendrauf wurden noch drei DDR-Klappräder geschnallt, und so erlebten wir trotz oder gerade wegen der Sanitäreinrichtungen der niedrigsten Kategorie - Eingeweihte wissen jetzt Bescheid und haben sofort wieder den beißenden Chlorkalk in der Nase - einen wunderbaren Urlaub direkt am FKK-Strand.

Unsere Neugier nach der Wende nach auswärtigen Tourismuszielen befriedigten wir zu Ostern und im Herbst. Seitdem sind wir ununterbrochen Dauercamper in Nonnevitz und rollten inzwischen zum 30. Mal zu Himmelfahrt mit unserem kleinen Wohnwagen und zwei alten Fahrrädern in Richtung Kap Arkona.

Wenn zu Beginn der auf sechs Wochen begrenzten und von den Sommerferien in Sachsen und Sachsen-Anhalt bestimmten Hauptsaison die Urlaubskarawane anrollt, eilt ihr der Ruf der Zeltplatzgastronomen und Ferienwohnungsvermieter voraus: »Vorsicht! Die Sachsen kommen!« Wir Hallenser aus der preußischen Provinz spüren aber diesen Spruch auch gelegentlich im Nacken, seit wir an der jährlichen Fahrradaktion des NABU und der AOK Rügen teilnehmen und ganz Wittow unsicher machen. Ohne die Verlockung, an jedem Zielort einen Stempel quasi als Erhebung in den Adelsstand eines Freizeitradlers zu bekommen, würden wir uns sonst niemals im Urlaub auf längere Strecken als bis zur nächsten Kaufhalle wagen. Außerdem werden die Stempel nicht beim Platzwart des örtlichen Sportvereins, sondern in Gaststätten mit verlockenden Fischgerichten und Eisbechern verteilt.

Eigentlich sollten wir solche Beanspruchungen dem Diamant-Damenfahrrad aus den 50er Jahren und dem MIFA-Herrenrad aus den 70er Jahren - beide zwar geputzt und geölt, aber original ohne Gangschaltung - nicht mehr zumuten. Da die damals in zwölf Schuljahren vermittelten polytechnischen Grundkenntnisse zwar zur Instandsetzung kleinerer Blessuren an den Fahrzeugen reichen, aber dem lauten Knacken in der Hinterradnabe des Damenrades damit nicht beizukommen ist, ernten wir auf den Radwegen in unserem selbst auferlegten Aktionsdreieck zwischen Kap Arkona, Gingst und Polchow von den vorbeirauschenden Radsportenthusiasten nicht nur mitleidige Blicke, sondern sicher auch den Warnruf: »Vorsicht! Die Sachsen kommen!« Gelegentlich müssen wir dann auch erklären, warum wir, passend zum alten Rad, oben ohne fahren, also leichtsinnig auf Fahrradhelme verzichten. Unser gesetzter Radstil passt eben nicht zu den futuristischen Kopfbedeckungen der Nutzer elektrounterstützter und gangschaltungsbestückter Hightech-Geräte. Deren Wert übersteigt gelegentlich den der in die Jahre gekommenen Campingausrüstung und zwingt zu martialischen Sicherungssystemen. Unsere Drahtesel hingegen stehen ohne Schloss über Nacht brav und sicher neben dem Wohnwagen.

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