Ein geflohener Sklave und die isländischen Gene

Wissenschaftler rekonstruieren DNA nur mit Hilfe der Nachfahren

  • Theresa Münch, Reykjavik
  • Lesedauer: 4 Min.

Hans Jonatan ist seit 190 Jahren tot. Niemand weiß genau, wo er begraben liegt, es gibt keine Knochenreste, keine Haare, keine Zähne. Und doch ist es isländischen Genforschern gelungen, seine DNA zu rekonstruieren - ohne eine einzige seiner Zellen. Das konnte nur in Island gelingen. Es zeigt, warum die Insel im hohen Norden mehr und mehr zur Goldgrube der Genforschung wird.

Hans Jonatan war der erste dunkelhäutige Mensch in Island. Er floh im Jahr 1802 aus der Sklaverei auf die Insel, heiratete eine Isländerin und bekam zwei Kinder mit ihr. Und hier greift die erste von Islands Besonderheiten: Denn seit Hunderten von Jahren katalogisieren die Isländer genau, wer von wem abstammt und mit wem welche Kinder bekommt.

»Wir sind eine Nation, die sich für Stammbaumforschung interessiert«, erläutert der Neurologe Kári Stefánsson. »Wenn man sich die alten isländischen Sagas anschaut, die im 12. und 13. Jahrhundert geschrieben wurden, findet man am Anfang Seite für Seite mit Stammbäumen.« Im Nationalen Archiv in Reykjavik reihen sich die Abstammungsbücher in langen Regalen aneinander. Jeder Ort, jeder Hof, jedes Kind sind darin Jahr für Jahr vermerkt. So konnten Stefánssons Forscher Hans Jonatans Nachfahren finden.

Zugleich, und das ist die zweite Besonderheit, ist Island als Insel sehr isoliert und hat eine vergleichsweise kleine Bevölkerung von nicht einmal 350 000 Menschen. »Ein sehr großer Prozentsatz der derzeitigen isländischen Bevölkerung hat seine Wurzeln in relativ wenigen Vorfahren«, sagt Stefánsson. Eine genetische Mutation in einem dieser Vorfahren finde sich deshalb in vergleichsweise vielen jetzt lebenden Isländern.

Stefánsson hat den wissenschaftlichen Nutzen dieses unglaublichen Informationsschatzes vor Jahren erkannt, unter dem Kopfschütteln Vieler seine angesehene Professur an der Elite-Universität Harvard aufgegeben und 1996 das Genforschungs-Unternehmen Decode gegründet. Seither hat etwa die Hälfte der Isländer Decode ihre DNA zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt. Es entstand eine der weltgrößten Gendatenbanken.

Damit hat das Team des exzentrischen Wissenschaftlers Genmutationen entdeckt, die etwa gegen Alzheimer und Herzinfarkte schützen. Sie haben die Wechselwirkung von Kreativität und Schizophrenie erforscht. Derzeit beschäftigt sie die Frage, wie das Gehirn Gedanken und Emotionen generiert.

Mehr als 500 000 Reagenzgläser mit Blutproben hängen bei minus 26 Grad tiefgefroren im Decode-Keller. Wird eins gebraucht, bringt es ein Roboter ans Ausgabefach - würde man das Glas manuell entnehmen, würde die Temperatur im Lager zu stark fluktuieren, erläutert eine Mitarbeiterin.

Einige dieser Reagenzgläser enthalten auch das Blut der Nachfahren von Hans Jonatan. Die Genotypen von 182 seiner 788 Nachkommen hat Decode untersucht und die für Island so ungewöhnlichen afrikanischen Fragmente identifiziert. Wie in einem viele Tausend Teile umfassenden Puzzle konnten sie mit Hilfe der DNA der Isländer einen Teil von Hans Jonatans DNA rekonstruieren. Sie stellten 38 Prozent seines mütterlichen Genoms zusammen - und fanden sogar heraus, dass seine Mutter aus Benin, Nigeria oder Kamerun stammen muss.

Dieser Erfolg, geben die Wissenschaftler zu, sei nur durch die einzigartige Situation möglich gewesen. »Wir haben einen Vorteil, wenn es darum geht, seltene Mutationen zu finden«, sagt Stefánsson. Der Neurologe gilt als schwieriger Zeitgenosse und hat sich mit seiner Arbeit nicht nur Freunde gemacht. Immer wieder gingen Datenschützer auf die Barrikaden, weil Decode auch Krankenakten auswerten und die Gene von Isländern ermitteln wollte, die dafür kein Einverständnis gegeben hatten. Die isländischen Behörden schoben dem einen Riegel vor.

Er selbst, sagt Stefánsson, könne seine Familie mehr als 1100 Jahre zurückverfolgen - bis zu Egill Skallagrimsson, einem 910 geborenen Krieger und Dichter, der zur allerersten Generation der Isländer gehört. »Vielleicht mag ich diesen Ort nicht, aber ich passe hier hin«, sagt der launische Mann in seinem immer etwas schroffen Ton.

Die amerikanische Gesellschaft für Humangenetik hat Stefánsson im vergangenen Jahr für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Kaum ein anderer Humangenetiker habe so viel zur Evolution und Revolution des Forschungsgebiets beigetragen wie er, würdigte sie ihn.

Stefánsson selbst sagt gern, seine Forschung sei im Grunde ganz banal. »Wir sind elementare Wissenschaftler, wir beleuchten die menschliche Natur und versuchen herauszufinden, wie der Mensch zusammengesetzt ist«, erklärt er. Und dann weniger bescheiden: »Das ist der Heilige Gral, die wichtigste Information der Welt.« dpa/nd

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