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Wanderlust als Lebensmodell

Die neue Sonderausstellung in der Alten Nationalgalerie lädt zu Entdeckungen ins 19. Jahrhundert

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Im 19. Jahrhundert war das Wandern, abgesehen von Pilgerreisen, der handwerklichen Walz und der »Grand Tour« des Adels zum Bildungserwerb ein Ausdruck des Frohgemutes und der Selbstfindung. Es wurde mit Rousseaus Parole »Zurück zur Natur!« und Goethes Sturm-und-Drang-Dichtung zum Ausdruck eines modernen Lebensgefühls. Malerei, Grafik, Zeichnung und erste Reiseführer bezeugen diesen Aufbruchsgeist, das Abenteurertum, Einkehr, Mühsal und Erbauung.

»Wanderlust« in der Alten Nationalgalerie - erstmals gibt es dieses pointierte Thema und den Bilderschatz mit Werken von Caspar David Friedrich, Carl Blechen, Karl Friedrich Schinkel, Carl Spitzweg, Arnold Böcklin und vielen mehr - ist eine prachtvolle Ausstellung. In zehn Kabinetten entfaltet sich das erstaunlich breite Motivspektrum, darunter aus der Zeit des französischen Realismus »Die Begegnung oder Bonjour Monsieur Courbet« von Gustave Courbet. Der Maler als Wanderer mit Bart tritt selbstbewusst seinem Mäzen entgegen.

Es geht in der Schau nicht allein um das Entdecken der Natur, jener Antriebsenergie, die im 19. Jahrhundert etwa Alexander von Humboldt als Forschungsreisenden nach Südamerika geführt hatte. Es geht auch nicht nur um spektakuläre Alpenbegegnungen als Faszinosum schlechthin mit Gemälden wie den »Berggängern« des Schweizers Karl Heinrich Gernler oder dem dramatisch inszenierten »Wetterhorn« von Karl Eduard Biermann. Vor allem geht es um den Freiheitsgewinn, den das Gehen in der Natur ermöglichte, sowie die gleichnishafte Betrachtung des Lebens. Die Wanderung als Lebensweg, wie in Ferdinand Hodlers Gemälde »Der Lebensmüde« von 1887. Es zeigt einen in sich versunkenen Greis mit Wanderstab und abgenutztem Schuhwerk. Jahre zuvor hatte er einen Jüngling gemalt als Quasi-Mittelpunkt seines Universums.

Illustre Gestalten von Hegenbarths »Taugenichts«, der Figur des Fiedlers, bis zu ganzen Malergruppen ziehen durch Wald und Flur, derweil Caspar David Friedrichs »Mann über dem Nebelmeer« 1817 als Rückenfigur gemalt ist und den Betrachterblick über eine fiktionale Gebirgslandschaft führt. Es gibt kein Weiter, kein Höher, nur wattigen Grund und Gipfel. Die Lebensreise des berühmten Dresdners, der bis in die Sächsische Schweiz, weiter nach Böhmen, dann nach Greifswald und Rügen gewandert war und dessen zahlreiche Gemälde von diesen Erfahrungen quasi leuchten, hat hier einen allegorischen Ausdruck gefunden. Das Schlüsselwerk seines Schaffens wurde aus der Kunsthalle Hamburg entliehen und ist zum ersten Mal in Berlin zu sehen. In Korrespondenz dazu stehen die Werke seiner Malerfreunde.

Die Romantik ist Mittelpunkt des inspirierenden Rundgangs, der mit Blickbezügen zu Ernst Ludwig Kirchners Hochformatgemälde »Sertigtal« aus dem Jahr 1926, mit Otto Dix’ Selbstporträt als Wanderpennäler oder Barlachs Holzskulptur »Wanderer im Wind« von 1934 Spuren legt in das 20. Jahrhundert. »Statt römische Armgesten zu vollziehen, ziehe ich den Hut in die Stirn«, hatte Barlach erklärend an seinen Verleger geschrieben.

Der Pyrenäenweg, auf dem auch Walter Benjamin ging, überhaupt die Zumutungen des Unterwegsseins im 20. Jahrhundert bis hinein in die Gegenwart, haben womöglich den Wanderlust-Begriff diskreditiert. Dafür gibt es genug Einschreibungen ins Bildgedächtnis. Man darf beim Schlendern diese dazudenken.

Vom Sturm und Drang bis zur nachnapoleonischen Zeit - es ist die Hauptphase nationaler Identitätsfindung - wird Wandern zu einem wichtigen Topos in Literatur und bildender Kunst als eine Art Land- und Mentalitätsvermessung. Eine Denkvoraussetzung schufen bereits im 18. Jahrhundert Edmund Burke und Immanuel Kant, die zur Aufwertung der Natur mit ihren philosophischen Schriften beigetragen hatten.

Kant bezieht die »wilde Natur« ein in die ästhetische Kategorie des Erhabenen. Immense Räume, Entstehungsalter, Gebirge, Wälder und Weiten und das Erleben dieser Dimensionen durch das Subjekt ermöglichen die Vorstellung von Erhabenheit. Das Erschauern am allzu Gewaltigen aufgehoben in eine positive Neugierde und vernunftgeleitetes Wissenwollen wurde bildnerisch von Heinrich Wüst im »Rhonegletscher«, 1775, mit seinen Eismassen und den winzigen Menschlein erfasst.

Ganz anders Ferdinand Kobells »Neckarlandschaft«. Hier findet sich eine heitere Spannung - abenteuerlich, aber keinesfalls erdrückend. Und ganz und gar sommerträumerisch führt Hans Thoma den Blick über die liebliche Taunuslandschaft von 1890. Ansonsten viel Regen, Sturm, Wolkentürme und das Blau des Südens in den Arkadien-Bildern der Schinkel-Zeit.

Den wandernden Künstlern boten sich neue Erfahrungen, Nah- und Fernperspektiven und Selbstbeobachtungen. Das Landschaftsbild gewann an Bedeutung, und das Unterwegssein selbst wurde zum Bildgegenstand. Wanderlust zu befriedigen, sich weit hinauszuwagen - auch darauf lenken die Kuratoren Birgit Verwiebe und Gabriel Montua einen genderhistorischen Blickwinkel - war Männern vorbehalten - und den wenigen Enthusiastinnen wie Bettina von Arnim.

Mit einem eigenen Themenraum »Spazierengehen« wird die den Frauen zugedachte Weise der Naturerkundung sichtbar gemacht. Heitere Spaziergängerinnen in bunten Reifröcken trippeln etwa durch den sächsischen Frühling. Es gibt kontemplatives Schauen, Blumenpflückerinnen, Liebespaare, impressionistisches Farbflimmern von Auguste Renoir und Alfred Sisley - Frau und Wiese eher als Frau und Bergwelt. Anstrengung war noch kein Thema. Aber es ließ nicht lange auf sich warten. Das Gemälde des Dänen Jens Ferdinand Willumsen von 1912 eröffnet und beschließt den Rundgang. Der Maler zeigt in einem monumentalen Gemälde seine Gattin im Hochgebirge in expressiver Bewegung, obwohl der Rocksaum noch mehr als knöchellang ist und weit entfernt von Outdoorkleidung.

»Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir«, bis zum 16. September in der Alten Nationalgalerie, Bodestraße 1-3, Mitte

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