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Demokratie im Rückwärtsgang
Johannes Agnolis »Transformation der Demokratie« gilt als APO-Bibel - und ist noch heute lesenswert
»Was macht der Agnoli da, der unterhält sich mit diesen Leuten über Fußball, statt über die Revolution.« In einem Interview aus dem Jahr 1990 gibt der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli diese Anekdote zum Besten, die sich im Republikanischen Club, einem Verein der Außerparlamentarischen Opposition (APO), auf dem Höhepunkt der Revolte von 1968 in Berlin zutrug. Die Gründer des Clubs, unter ihnen Hans Magnus Enzensberger, verstanden sich als Intellektuelle. Ein Fußballspiel anzuschauen, das »war da praktisch verboten«, so der Fußballfan Agnoli im Rückblick. Die Folge war, dass er zwar nicht der Einzige, aber doch der Erste war, der über den Fußball Kontakt zu jungen Arbeitern und Westberliner Fußballfans fand, von denen einige tatsächlich in den Republikanischen Club kamen.
Ob er aber mit diesen Arbeitern und Fußballfans auch über seinen 80-seitigen Aufsatz »Die Transformation der Demokratie« diskutiert hat, ist eine andere Frage. 1967 kam der Text zusammen mit dem Essay »Die Transformation des demokratischen Bewusstseins« des marxistischen Sozialpsychologen Peter Brückner in einem Band heraus, der schnell zur »Bibel der APO« avancierte.
Brückners Aufsatz mag damals einigen als aufregender erschienen sein, doch im Rückblick lässt sich sagen, dass Agnolis Text bedeutsamer war. Er versucht eine radikalen linken Kritik des Parlamentarismus und des Repräsentativprinzips. Dem anarchistisch inspirierten Marxisten Johannes Agnoli ging es dabei um die »Kritik der Politik«. Was darunter zu verstehen sei, hat er einmal folgendermaßen ausgedrückt: »Beschreiben, analysieren, wie die politische Macht funktioniert, zu welchem Zweck und mit welcher Perspektive. Die Macht ist als solche abzulehnen, aber nicht in der Form der radikalen abstrakten Absage, sondern in der Form, dass man kritisch überprüft, wie die Macht funktioniert, wie die Institutionen funktionieren.«
Genau das tat Agnoli in »Die Transformation der Demokratie«. Sehr anschaulich hat der Publizist Sebastian Haffner die Thesen des Aufsatzes zusammengefasst. In seiner Rezension, damals veröffentlicht in der Zeitschrift »konkret«, schrieb er: »Nominell leben wir in einer Demokratie, das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen.« Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten sei heute nicht geringer als etwa im Kaiserreich, so Haffner. Und dies, »obwohl die traditionellen Einrichtungen einer Demokratie - Parlament, Parteien, Pressefreiheit usw. alle vorhanden sind und funktionieren«. Nur, das sei die Pointe in Agnolis Aufsatz, »funktionieren sie plötzlich sozusagen im Rückwärtsgang«. Einrichtungen, die den Volkswillen nach oben tragen sollten, hin zu den Entscheidern der Politik, wirkten »stattdessen als Transmissionsmechanismus des Herrschaftswillens nach unten. Die Demokratie ist nicht abgeschafft, sie ist transformiert worden.«
Bei Agnoli selbst klingt das alles etwas komplizierter. Haffners Rückwärtsgang heißt bei ihm »Involution«, was das Gegenteil von Evolution beschreiben soll. Der 2003 verstorbene Autor definierte dies so: »In den Ländern wird die Involution dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nicht gegen die alten Verfassungsnormen und -formen durchsetzen will, sondern tendenziell sich ihrer zu bedienen versucht. Um die Demokratie zu transformieren, wird die Funktion der traditionellen Institutionen verändert und werden die Gewichte innerhalb der traditionellen Struktur verlagert.«
Agnoli erarbeitet seine Analyse ausgehend von einem historischen Rückblick: Einst war das Parlament zentrales Emanzipationsmittel der Bourgeoisie im Kampf gegen den Feudalismus. Doch als das Bürgertum die Herrschaft errungen hatte, begann das Parlament die bürgerliche Herrschaft zu bedrohen, denn mit dem allgemeinen Wahlrecht erhielten die Massen, erhielt die Arbeiterklasse, politische Macht und schickte sozialistische Politiker in die Parlamente. So konnte der Klassenantagonismus innerhalb des Systems der Macht ausgedrückt werden. Daran indes hat die herrschende Klasse kein Interesse. Und um das zu verhindern, ging sie Agnoli zufolge zur Involution über: Die Demokratie wird ausgehöhlt und zurückentwickelt bei Weiterexistenz der formellen Institutionen und Verfahren; das Klassenbewusstsein wird durch ein staatsbürgerliches ersetzt, das die Artikulation von Klasseninteressen - den Klassenkampf - stillstellt.
Hierbei wiederum, so Agnoli, ist das parlamentarische Repräsentationsprinzip und sind die politischen Parteien zentral. Ersteres habe die Aufgabe, friedlich, aber wirksam die Mehrheit der Bevölkerung von den Machtzentren des Staates fernzuhalten. Agnoli zufolge müsse ein Teil der politischen und gesellschaftlichen Oligarchien gleichwohl sichtbar und dem Schein nach öffentlich kontrolliert im Parlament tätig sein.
Die Parteien haben sich ihm zufolge von der sozialen Basis getrennt und sind zu »staatspolitischen Vereinigungen« geworden. »So entsteht ideologisch und organisatorisch die Volkspartei. In ihr sind Interessenkonflikte schon vorparlamentarisch (…) ausgeglichen und integriert.« Den Wählern werde die Illusion eines offenen Wettbewerbs vermittelt, als Politikkonsumenten beliefert man sie mit Scheinunterschieden.
Bekanntlich waren die Notstandsgesetze ein zentraler Auslöser der Studierendenproteste Ende der 1960er Jahre. Die Wandlung der SPD von der Klassen- zur Volkspartei und die Bildung einer Großen Koalition waren weitere Faktoren. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum »Die Transformation der Demokratie« damals so sehr einschlug. Der Text gab der Angst vor der Einschränkung der Demokratie ein analytisches Gesicht. Aus Agnolis Analyse ergab sich die Perspektive einer systemoppositionellen Organisation, die den Klassencharakter des bundesdeutschen Nachkriegskapitalismus wieder sichtbar machte. Die »68er« konnten sich in dieser Rolle wähnen - wenngleich sie im Rückblick an diesem Anspruch scheiterten.
Auch dafür lieferte Agnoli quasi vorab die Erklärung: Der berühmte »Marsch durch die Institutionen«, das hatte er quasi schon kommen sehen, veränderte diejenigen, die marschierten, weit mehr als das System. Der Parlamentarismus integrierte die linke Systemopposition. So genau hatten viele der Protestierenden »ihren Agnoli« also auch nicht gelesen.
Wie ist nun heute auf diesen Text zu blicken, der der »Außerparlamentarischen Opposition« damals genau erklärte, warum sie eben besser außerparlamentarisch handle?
Ende der 1980er Jahre reagierte Agnoli selbst auf diese Frage mit »grober Ironie«: »Haben wir 20 Jahre danach ›mehr Demokratie‹, eine größere Eingriffsmöglichkeit der Bevölkerung in die politischen Entscheidungsprozesse?« Auch heute lässt sich diese Frage mit dieser rhetorischen Gegenfrage beantworten. Den Einwand, dass durch Volksentscheide die Bevölkerung doch sehr wohl mehr Mitspracherechte habe, würde Agnoli vermutlich ähnlich parieren wie der Publizist Thomas Wagner in seinem Buch »Die Mitmachfalle«: Hinter der Beteiligungsfassade verbergen sich anti-demokratische Tendenzen. Die Einbindung von Bürgern in Entscheidungen ziele lediglich auf Konfliktvermeidung. Ein Blick auf die deutsche oder europäische Parteienlandschaft zeigt darüber hinaus, dass Agnolis Befund von der pluralen Fassung der Einheitspartei gerade in wirtschaftspolitischen Fragen immer noch zutreffend ist - vielleicht sogar fast mehr denn je.
Natürlich ist auch der Klassenantagonismus in jüngeren Jahren in Deutschland nicht offensichtlicher geworden. Vielmehr hat sich am Beispiel der PDS - und der späteren Linkspartei - abermals gezeigt, dass eine nominell sozialistische, also das Privateigentum an den Produktionsmitteln grundsätzlich infrage stellende Partei, sich ziemlich rasch für den parlamentarischen Betrieb hat vereinnahmen lassen.
Agnolis Kritik weist zudem interessante Überschneidungen mit jüngeren Arbeiten auf, etwa Colin Crouchs Diagnose der »Postdemokratie«. Crouch schreibt, dass dem äußeren Anschein nach die parlamentarische Demokratie mit ihren Institutionen wie Parteien, Wahlen, parlamentarischen Verfahren und öffentlichen Diskussionen zwar intakt ist, aber im Schatten der politischen Inszenierung die relevanten Fragen hinter verschlossenen Türen entschieden werden.
Freilich besteht ein gravierender Unterschied: Crouch scheint für einen neuen Parlamentarismus, einen transparenteren, von der Lobbyarbeit transnationaler Unternehmen befreiten, Parlamentarismus zu plädieren. Für Agnoli hingegen ist dieser Zustand eine geschickte Form von Herrschaft, weil sie den Schein vermittelt, mit der Wahl über sich selbst bestimmen zu können. Ihm ging es daher um die Ersetzung bürgerlich-parlamentarischer Herrschaft durch ein Rätesystem.
Natürlich wurde Agnolis Hauptwerk auch viel und schon zeitgenössisch kritisiert: Seine auf den Antagonismus abstellende Klassenanalyse sei zu schematisch, die tatsächlich sehr bestimmenden Mittelklassen etwa spielten keine Rolle. Parteien artikulierten eben mehr als einen sozialen Antagonismus. Agnoli argumentiere zu sehr mit der Annahme von »Manipulationen«, er blicke zu funktionalistisch von oben nach unten.
Das alles ist ja auch nicht falsch. Aber gleichwohl lohnt die Lektüre der »Transformation der Demokratie« noch immer. Sie macht nämlich deutlich, wie sehr es gegenwärtig an einer gut fundierten und explizit linken Kritik von Parteien und Parlamentarismus mangelt.
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