»Wir können so nicht leben«
Die (agro-)industrielle Reservearmee unternimmt Versuche, sich zu organisieren
»Wir können so nicht leben«, sagt Marina Subbaj. Sie arbeitet auf einer der unzähligen Teeplantagen in Indien. »Wir erhalten inzwischen sogar subventionierte Grundnahrungsmittel vom Staat, um nicht zu verhungern«, so die Arbeiterin gegenüber »nd«.
Marina Subbaj steht stellvertretend für Millionen. Ein wesentlicher Teil des weltweiten Prekariats lebt auf dem Land als (agro-)industrielle Reservearmee. Komplett mittellos, von Lohnarbeit abhängig. Etwa 300 bis 500 Millionen Frauen und Männer so schätzt die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen. Sie arbeiten auf Plantagen, auf Großfarmen, aber auch als Tagelöhner beim Kleinbauern nebenan.
Übersehen werden oft die Verbindungen dieser Ausgeschlossenen zur globalen Mittel- und Oberschicht, vermittelt über den Markt: Grundlage der kapitalistischen Industrialisierung in den vergangenen 200 Jahren waren billige und immer weitere sinkende Preise für Nahrungsmittel. In keinem anderen Sektor sind die Löhne so niedrig wie in der Landwirtschaft.
Das Prekariat vom Land wird gebraucht, sowohl als industrielle Reservearmee, aber auch um die Preise für unser Essen niedrig zu halten. Das fängt in Deutschland an. Der Mindestlohn existiert zwar auch für Landarbeiter auf dem Papier, aber oft nur dort. 300 000 Saisonarbeiter kommen Jahr für Jahr aus Osteuropa nach Deutschland, um Erdbeeren zu ernten, den Spargel zu stechen und um Weintrauben zu lesen. Bislang waren das vor allem Menschen aus Polen und Rumänien. Doch die Ausbeutung ist so extrem, dass aus diesen Ländern immer weniger Menschen zum Schuften für ein paar Monate nach Deutschland kommen.
»Die Betriebe üben enormen Druck aus«, sagt Katharina Varelmann vom PECO-Institut, »sie können von heute auf morgen kündigen, wenn ErntehelferInnen ihre Leistung nicht schaffen.« Burkhard Möller, Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Arbeitgeberverbandes GLFA fordert deshalb, die Bundesregierung müsse ein bilaterales Abkommen mit der Ukraine zur Migration billiger Saisonarbeitskräfte vereinbaren. Doch nicht nur SaisonarbeiterInnen hierzulande produzieren unser Essen. Auch an den Rändern der EU wie in Griechenland, Spanien oder Italien werden systematisch MigrantInnen aus Drittstaaten für die Massenproduktion unseres Gemüses und Obstes ausgebeutet.
Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam, die Christliche Initiative Romero (CIR) oder INKOTA belegen mit konkreten Fallstudien immer wieder, dass Kakao, Bananen oder Orangensaft aus Ausbeutungsplantagen in den Regalen der vier großen Supermarktkonzerne (Edeka, Rewe) und Discounter (Aldi, Lidl) landet. Bei diesen Berichten geht es keineswegs »nur« um die Verletzung von Arbeitsrechten, sondern stets auch um den Lohn, der unter das absolute Existenzminimum gedrückt wird. Ein eindrückliches Beispiel sind die Teepflückerinnen in den Hauptexportländern wie Sri Lanka, Kenia oder Indien. In Darjeeling im Nordosten Indiens produzieren Pflückerinnen den Weltklasse-Tee für die OTG (Meßmer-Tee), Teekanne oder die glänzenden Franchise-Outlets von TeeGschwendner. Ihr Tageslohn liegt unter zwei Euro.
Um die Ausbeutung zu mindern, konkurrieren aktuell zwei Ansätze. Der erste Ansatz geht von den bestehenden Machtverhältnissen in der Lieferkette aus. Er setzt darauf, dass Handelskonzerne und Nahrungsmittelverarbeiter wie REWE oder Unilever das Image ihrer Marke als ihr Kernkapital betrachteten und mithilfe von (formal freiwilligen) Verhaltenskodizes die gröbsten Menschenrechts- und Arbeitsrechtsverletzungen vermeiden. Um diese Kodizes wie Rainforest Alliance, Global GAP und so weiter hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine riesige Industrie von Zertifizierungsorganisationen und »Entwicklungsberatern« gebildet. Sie stellen nichts anderes dar als die neoliberale Form der Regulation von globalen Lieferketten, unter weitgehender Abwesenheit von Staaten.
In jüngster Zeit gibt es eine Gegenbewegung, die menschenrechtlich argumentiert und versucht, die institutionalisierte Unverbindlichkeit zu überwinden. Sie zielt auf gesetzliche Formen der Regulierung ab und will die Handelskonzerne in die Pflicht nehmen. Diese sind es, die mit ihrer Marktmacht die Preise in ihrer Zulieferkette nach unten drücken können, und am stärksten von den Ausbeutungsstrukturen profitieren. Eine wichtige aktuelle Initiative wird auch von der Rosa Luxemburg Stiftung und der Linksfraktion im Bundestag unterstützt: Am UN-Menschenrechtsrat in Genf diskutiert eine Arbeitsgruppe von Staatsvertretern über ein rechtlich verbindliches Abkommen zur Regulierung transnationaler Konzerne, das »UN Treaty«. Ein zentrales Verhandlungsthema sind die sogenannten Sorgfaltspflichten, also die Frage wie die menschenrechtliche Verantwortung von Konzernen gegenüber den ArbeiterInnen bei ihren Zulieferketten zu definieren ist.
Die Versuche der menschenrechtlichen Regulierung von Lieferketten sind wichtig. Aber sie reichen alleine nicht aus. Im vergangenen Herbst berichteten Vertreter einer Gewerkschaft von Arbeitern auf südafrikanischen Weinfarmen von der Ausbeutung vor Ort. Im Mai nun verkündeten die Medien in Südafrika, dass einige südafrikanische Exporteure und deutsche Importeure von Wein dem Bündnis »Stronger together« beigetreten seien, einer Initiative der Industrie, um Zwangsarbeit und Ausbeutung von Weinfarmen zu bekämpfen. Nur eine Woche später meldete sich die Gewerkschaft und berichtete, dass einer ihrer Organizer verfolgt und beschossen wurde, und in ihre Geschäftsstelle eingebrochen wurde. Diese Berichte kennen wir auch aus vielen anderen Fällen weltweit. Die gute Nachricht ist: LandarbeiterInnen, Plantagenarbeiter und ihre Familien organisieren sich, vernetzen sich über WhatsApp, dokumentieren Angriffe gegen sich auf Facebook, bilden Gewerkschaften, oder, wenn dies zu riskant ist, organisieren sich im Untergrund. Die schlechte Nachricht dagegen: Die Ausbeutung auf diesen Plantagen und Farmen ist häufig gewaltförmig. Das heißt, die Organisierung ist riskant. Kämpfe gegen Arbeitsrechtsverletzungen in Agrarlieferketten dürfen daher nicht technokratisch und abstrakt bleiben. Sie müssen aufbauen auf den Kämpfen und Interessen der Gewerkschaften vor Ort, und müssen diese Kämpfe ergänzen. Solidaritätsarbeit und direkter Austausch mit den VertreterInnen dieser Menschen, die hier ausgebeutet wird, sind entscheidend.
Unser Autor ist Programmleiter Dialogprogramm Ernährungssouveränität bei der Rosa Luxemburg Stiftung, die am 15. Juni von 11 bis 22 Uhr in der Prinzenstraße 85F in Kreuzberg das »Politische Sommerpicknick« veranstaltet: www.rosalux.de/sommerpicknick
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