Integrationsdebatte in Israel

Wirtschaftsvertreter stellen sich gegen die Ausweisung afrikanischer Flüchtlinge

  • Oliver Eberhardt, Tel Aviv
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor den Eingängen der zentralen Busstation in Tel Aviv herrscht dichtes Gedränge. Auf einer Rasenfläche auf der anderen Straßenseite haben sich Menschen niedergelassen - an ihrer Hautfarbe, ihren Sprachen sind sie als Flüchtlinge aus Afrika zu erkennen.

Sie haben eine lange Reise durch den afrikanischen Kontinent hinter sich, in deren Verlauf gemäß Berichten der Vereinten Nationen wohl die meisten von ihnen drastischen Schikanen und Gewalt ausgesetzt waren. Im Süden von Tel Aviv haben sie überbelegte, heruntergekommene Bleiben gefunden, wo es immer wieder zu Konflikten mit der einheimischen Bevölkerung kommt, die die Migranten für Drogenhandel, Gewalt und Prostitution verantwortlich macht. »Ohne Grund«, wie ein Sprecher der Polizei klarstellt; die Flüchtlinge seien nicht krimineller als die Einheimischen.

Gut 40.000 Flüchtlinge aus Sudan, Südsudan und Eritrea leben in Israel; fast 14.000 davon sind in Tel Aviv untergekommen. Seit Jahren versucht die Regierung nun schon, sie loszuwerden, internierte viele von ihnen zeitweise in einem Camp in der Wüste. Anfang des Jahres schloss man dann Deals mit Ruanda und Uganda und stellte die Menschen vor die Wahl: freiwillige Ausreise mit einem Handgeld von gut 2000 Euro oder Gefängnis. Nur wenige entschlossen sich zur Reise in die beiden ostafrikanischen Länder, die ihnen völlig unbekannt sind. Nach Berichten über menschenunwürdige Bedingungen in den Aufnahmeländern erklärte der Oberste Gerichtshof Israels die Abkommen dann für nichtig.

Während Regierungschef Benjamin Netanjahu jetzt mit europäischen Ländern über eine Aufnahme der Afrikaner verhandelt, hat eine Gruppe von 64 Wirtschaftsbossen, vier ehemaligen Staatssekretären und den Vorsitzenden der wichtigsten Arbeitgeberverbände in einem offenen Brief an die Regierung jetzt einen ganz anderen Plan vorgestellt: Israel solle demnach lieber einen Großteil der Flüchtlinge in die Gesellschaft integrieren; das nutze der Wirtschaft ebenso wie der Gesellschaft.

Die Unterzeichner, die zusammen einen Großteil der wirtschaftlichen Elite des Landes ausmachen, verweisen darauf, dass auch ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern meist aus ärmlichen Verhältnissen und aus extremer Not heraus nach Israel gekommen seien. Und wenn der reine Appell an die Menschlichkeit ungehört verhalle, dann müssten eben die wirtschaftlichen Vorteile deutlich gemacht werden, sagt Schraga Brosch, Chef der Herstellervereinigung MAI: »Im Grunde ist das, was wir sagen, weder neu noch unbekannt; es wurde einfach darüber hinweggegangen. Wir hoffen, dass unser gemeinsames Urteil genug Gewicht hat, um zu einem Umdenken zu bewegen.« Für die Abschiebung der Flüchtlinge, so hat man ausrechnen lassen, müsste die Regierung umgerechnet zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Euro in die Hand nehmen. Denn: Die Aufnahmeländer wollen für den Mehraufwand bezahlt werden.

Eine gleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge über das ganze Land samt eines Finanzausgleichs für die aufnehmenden Kommunen und den Kosten einer Sanierung des Südens Tel Avivs würde indes höchstens 100 Millionen Euro kosten, zudem Arbeitsplätze schaffen, die Lebensbedingungen der Einheimischen verbessern und pro Jahr zu Mehreinnahmen von gut einer Milliarde Euro führen. Vor allem in der Landwirtschaft sowie im Hotel- und Gaststättensektor werden derzeit Arbeitskräfte gesucht. »Man findet nicht genug Israelis für diese Jobs«, sagt Brosch. »Und die Flüchtlinge, die die Stellen haben wollen, dürfen nicht arbeiten und sollen ausreisen, während die Wirtschaft im Ausland um Arbeitskräfte wirbt; das erscheint sehr sinnlos.«

In der Politik wird der Vorschlag von den arabischen bis hin zu den an der Regierung beteiligten ultraorthodoxen Parteien begrüßt. Dass er dennoch derzeit keine Chance hat, liegt an einer kleinen Gruppe, die aber durch das Koalitionssystem großen Einfluss hat. »Wenn wir den Afrikanern das Leben hier erleichtern, dann kommen bald noch mehr«, tönt Verteidigungsminister Avigdor Liebermann, Chef der rechten Partei Jisrael Beitenu. Und auch Bildungsminister Naftali Bennett von der siedlernahen Partei Jüdisches Heim besteht auf einer Ausweisung aller: »Wir müssen die jüdische Natur des Staates schützen.«

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