- Politik
- Geschichtspolitik der AfD
Der »Schlussstrich« hilft dem Ressentiment
Die NS-Zeit als Vogelschiss der Geschichte zu betrachten, ist Beschlusslage der AfD.
Gibt es in der AfD eine Stimme der Restvernunft? Die Alternative Mitte, eine bundesweite Arbeitsgruppe der Partei, würde sich selbst wohl als solche bezeichnen. In der Medienarbeit der Rechtsaußenpartei fällt ihr regelmäßig dann die Rolle des Mahners zu, wenn ein Spitzenfunktionär mit seiner Äußerungen Aufmerksamkeit produziert. Auch im Fall der jüngsten Provokation durch Alexander Gauland zur deutschen Geschichte war dies der Fall. Der Fraktionschef der Bundestags-AfD hatte auf dem Kongress des Parteinachwuchses von der Jungen Alternative (JA) im thüringischen Seebach einen Satz gesagt, der ihm in den kommenden Tagen einen Platz in den Schlagzeilen garantierte. »Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte«, so Gauland. Die Äußerung saß und während der JA-Kongress jubelte, sprangen Politiker und Medien darauf an. Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verwies in einer Rede indirekt auf die AfD und erklärte, wer »den einzigartigen Bruch mit der Zivilisation leugnet, kleinredet oder relativiert, der verhöhnt nicht nur die Millionen Opfer, sondern der will ganz bewusst alte Wunden aufreißen und sät neuen Hass.«
Innerparteilich war es die Alternative Mitte, die sich öffentlich von Gaulands Äußerungen distanzierte und erklärte, sie entschuldige sich »bei allen Opfern des Naziregimes sowie deren Familien für die als unglaubliche Bagatellisierung der Nazizeit empfundene Äußerung«. Der genauere Blick in diese Erklärung lohnt. So kritisiert die Gruppe zwar die provokante »Vogelschiss«-Wortwahl, sagt aber auch, dass es eben Dritte seien, die diese Äußerung als Bagatellisierung der Nazizeit verstehen. Ob die Alternative Mitte dies selbst so sieht, bleibt offen. Stattdessen deutet sie an, die Aussage ließe sich auch nur als zeitlicher Vergleich im Bezug von zwölf Jahren Naziherrschaft zur gesamten deutschen Geschichte verstehen. Andererseits könne es ebenso eine Interpretation geben, wonach sich die Aussage »auch auf Inhalt und Bedeutung der NS-Zeit« bezieht. Dass die Alternative Mitte hier nur vorsichtig Kritik übt, Raum für Interpretationen lässt und sich damit indirekt an der Relativierung von Gaulands Äußerung beteiligt, ist kein Zufall. Die NS-Zeit als Vogelschiss der deutschen Geschichte zu sehen, ist nicht weniger als geltende Beschlusslage der Partei.
Selbstverständlich drückt sich die AfD bei ihren Vorstellungen zur deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik in offiziellen Papieren weniger scharf aus. So kritisiert die Partei in ihrem seit 2016 geltenden Grundsatzprogramm eine angebliche »aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus«. Die Forderung dahinter unterscheidet sich nur unwesentlich von Gaulands Vogelschiss-Zitat. Verengung bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als die Behauptung, der NS-Zeit würde im Vergleich zu anderes Aspekten deutscher Geschichte zu viel Raum in der Erinnerungspolitik eingeräumt.
Den Fehler, die Verbrechen der Deutschen direkt herunterzuspielen, etwa indem Opferzahlen in Zweifel gezogen werden, begeht die AfD nicht. Darum geht es ihr auch nicht. So betonte Gauland in seiner Rede vor dem JA-Kongress, dass die Deutschen für den Tod von Millionen ermordeter Juden und Kriegsopfer verantwortlich seien. Die Relativierung ergibt sich aus der Behauptung, dies sei eben nur ein kleiner Aspekt von vielen in der deutschen Geschichte, eben nur »ein Vogelschiss«.
Auch der Politikwissenschaftler Hajo Funke warnt davor, in den Äußerungen Gaulands lediglich eine gezielte mediale Provokation zu sehen. Tatsächlich handele es sich dabei um den »Ausdruck von Gaulands Haltung, nach der die deutsche Identität, wie er sie sieht, ohne die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den Verbrechen auskommen« könne, so der emeritierte Professor in einer Einschätzung gegenüber dem »nd«. Eine Haltung, die laut Funke in der AfD weit verbreitet ist.
Tatsächlich fiel Gauland in der Vergangenheit mehrfach durch ähnlich scharfe Äußerungen auf, die direkt oder indirekt die Relevanz der NS-Verbrechen für die deutsche Geschichte und Gegenwart herunterspielten. Anfang September 2017 trat er beim sogenannten Kyffhäusertreffen der völkisch-nationalistischen AfD-Gruppe »Der Flügel« auf. Gauland forderte in einer Rede, den Schlussstrich unter die deutsche NS-Vergangenheit zu ziehen. Wörtlich erklärte er: »Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Und das sprechen wir auch aus.« Politologe Funke widerspricht Gauland vehement. Die Erinnerung an die Verbrechen eines »extremen völkischen Nationalismus im Nationalsozialismus« erfülle für die Demokratie einen bereichernden Sinn: Sie soll verhindern, dass sich »erneut Ressentiments gegen als schwächer und zugleich als gefährlich definierte« Gruppen entfesseln, so der Autor des kürzlich erschienen Buches »Gäriger Haufen« über die völkischen Radikalen.
Doch genau das will die AfD, wenn sie heute Vorurteile gegen Muslime und »den« Islam schürt. Eine Besinnung auf die Erinnerung an die Verbrechen würde da nur stören, ergeben sich aus dieser laut Funke doch unweigerlich Konsequenzen »für einen demokratischen freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat«. In der Vorstellung Gaulands, aber auch anderer völkischer AfD-Politiker wie Björn Höcke, wäre die avisierte Bildung einer »deutschen Identität« nach ihren Vorstellungen gefährdet, schließt die Erfahrung aus der Geschichte doch eine Ausgrenzung »aller größeren ethnischen und religiösen Minderheiten« aus, so Funke. AfD-Vertreter würden freilich nie davon sprechen, eine deutsche Identität nach völkischem Vorbild konstruieren zu wollen. Auch hier liefert das Grundsatzprogramm Hinweise. Demnach gehe es der AfD um eine »erweiterte Geschichtsbetrachtung«, die »auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst«. Vereinfacht ausgedrückt: Die Rechten wollen historische Ereignisse und Persönlichkeiten in den Vordergrund der geschichtlichen Betrachtung setzen, die Anknüpfungspunkte für eine kollektive »deutsche Identität« bieten. Denn: Identitätsfragen dürften »nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt werden«. Wer diese explizit sind, dazu schweigt das AfD-Grundsatzprogramm. Es lässt sich allerdings leicht ausmalen, wen die radikale Rechte meint, da sie nur eine Seite weiter eine »deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus« fordert.
Sprachlich getarnt sprechen AfD-Vertreter nicht von einem alle Lebensbereiche vereinnahmenden Nationalismus, sondern einem »gesunden Patriotismus«, wie Co-Parteichef Jörg Meuthen 2016 das auf dem Stuttgarter Bundesparteitag verabschiedete Programm umschrieb. Funke warnt davor, den Patriotismus Marke AfD mit dem sogenannten Verfassungspatriotismus zu verwechseln. Letzterer umfasst dem Politikwissenschaftler zufolge etwa liberale Freiheitsrechte, Pluralität innerhalb eines Landes sowie das Zusammenleben mit verschiedenen Minderheiten. Ersterer setze dagegen auf »die Beschwörung einer 100-jährigen Geschichte« vermeintlich »großer deutscher Traditionen«.
Neu ist dieses Ringen der politischen Rechten um die Forderungen nach einem »Schlussstrich« hierzulande nicht. Die Forderung fand sogar immer wieder prominente Anhänger in den Reihen der Union. Bereits 1969 forderte die CSU-Lichtgestalt Franz Josef Strauß: »Schluss mit ewiger Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftlicher Dauerbüßeraufgabe«. Zur Parole, es müsse endlich Schluss mit dem »Schuldkult« sein, ist es da nicht mehr weit. Die Forderung bildet eine Klammer, die vom konservativen Lager über die AfD bis hin zu den Neonazis von der NPD reicht. Höcke nahm die geschichtsrelativierende Vokabel ebenso in den Mund wie der Dresdner AfD-Politiker Jens Maier. Dumm nur: Besagten »Schuldkult« gibt es laut einer von der Universität Bielefeld im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichten Studie überhaupt nicht. Die Erinnerungskultur der Bevölkerung ist demnach viel differenzierter als von der AfD behauptet. Der behauptete »Schuldkult« sei empirisch nicht haltbar, erklärte der Gewaltforscher Andreas Zick.
Laut der Befragung fühlt sich nur etwa jede zehnte Befragte schuldig für den Holocaust, wobei an der Studie Menschen im Alter von 16 bis 92 Jahren teilnahmen, tatsächliche Täter von damals also nur in einer geringen Zahl in die Studie involviert waren. Wichtiger ist die Erkenntnis, wonach mehr als 84 Prozent der Befragten den Geschichtsunterricht an den Schulen für »sehr wichtig« erachten, um zu verhindern, dass so etwas wie der Nationalsozialismus noch einmal passiert.
Mehr als zwei Drittel der Befragten erklärten, dass sich aus dem Nationalsozialismus eine »besondere moralische Verantwortung« für Deutschland ergebe, fast ebenso viele bezeichneten die Nazizeit als »Teil der deutschen Identität«. Im Umkehrschluss heißt dies aber auch: Ein Drittel ist für die »Schlussstrich«-Forderung der AfD empfänglich.
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