»Das wäre ein Verstoß gegen EU-Recht«

Rechtswissenschaftler Jürgen Bast über Horst Seehofers geplanten nationalen Alleingang in der Flüchtlingspolitik

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

CSU und FDP fordern die Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen, die bereits in anderen EU-Ländern registriert sind. Damit werde angeblich die Dublin-Verordnung umgesetzt. Wäre solch ein Schritt rechtmäßig?

Wenn Deutschland Menschen an der Grenze zurückweist, die einen Asylantrag stellen wollen, dann verstößt das gegen die Dublin-Verordnung. Dieses europäische Gesetz sieht vor, dass ein Verfahren durchgeführt werden muss, in dem geklärt wird, welcher Staat für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Das kann Deutschland oder auch ein anderes Mitgliedsland der EU sein.

Jürgen Bast

Jürgen Bast ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Er ist zudem Mitherausgeber der »Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik« und Leiter der Refugee Law Clinic Gießen, eines interdisziplinären Ausbildungsangebots im Bereich Rechtswissenschaft. Mit dem Wissenschaftler sprach nd-Redakteur Sebastian Bähr. Foto: Universität Gießen

Wenn ein Flüchtling zuerst beispielsweise in Italien an Land geht, wie könnte dann Deutschland für das Verfahren zuständig sein?

Zum Beispiel, wenn der Asylantragsteller Familienangehörige hat, die in Deutschland leben und dort ein Asylverfahren durchlaufen.

Gibt es weitere Gründe, die gegen eine Zurückweisung sprechen könnten?

Unter Umständen spricht auch etwas dagegen, wenn in dem anderen Staat Bedingungen herrschen, die ein ordnungsgemäßes Asylverfahren unmöglich machen. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte etwa in einem Fall für Italien angenommen, weil die Unterbringung von minderjährigen Flüchtlingen nicht gewährleistet war.

Inwiefern werden die Rechte eines Flüchtlings beschränkt, wenn man ihn an der Grenze zurückweist?

Man verweigert der Person den Zugang zum Asylverfahren. Das ist ein Grundrecht, das die Dublin-Verordnung garantiert. Darüber hinaus hat der Flüchtling das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz. Wenn er in einen unzuständigen Staat abgewiesen wird, muss er sich den Zugang zum Asylverfahren einklagen können.

Wären bei einer Zurückweisung von Deutschland Nachbarländer wie Polen oder Österreich in der Verantwortung?

Im Normalfall wird ein Nachbarstaat Deutschlands nicht zuständig sein. Häufig ist es so, dass der EU-Staat zuständig ist, in den die Person zuerst eingereist ist, zum Beispiel Griechenland oder Italien. Deutschland verstößt gegen europäisches Recht, wenn es die betroffene Person in einen unzuständigen Staat, also beispielsweise Österreich, zurückweist.

Eine Folge der FDP- und CSU-Forderung wäre die Stärkung nationaler Grenzkontrollen. Ist dies mit EU-Recht kompatibel?

Wir diskutieren im Moment so, als sei es selbstverständlich, dass Deutschland an seinen Grenzen überhaupt Kontrollen durchführt. Das ist im EU-Recht gar nicht vorgesehen, da es sich um Binnengrenzen der EU beziehungsweise des sogenannten Schengenraums handelt. Die Grenzkontrollen, die dort im Moment eingeführt sind, sollen ausdrücklich nur vorübergehend sein. Als Obergrenze sind 24 Monate vorgesehen. Die haben wir schon längst überschritten, seit die Kontrollen im Herbst 2015 eingeführt wurden.

Was wären die Folgen für die EU, wenn sich Innenminister Horst Seehofer durchsetzen sollte?

Wenn Deutschland sich nicht mehr an europäisches Recht hält, dann hätte das Auswirkungen auf die ganze EU. Damit wird die europäische Integration insgesamt infrage gestellt. Ebenso wird Druck auf die Nachbarstaaten ausgeübt, ebenfalls illegale Grenzkontrollen einzuführen. Dann hätten wir eine politische Krise.

Was würde mit den Flüchtlingen passieren?

Der Grundgedanke des Dublin-Systems ist, dass es mindestens einen EU-Mitgliedstaat gibt, der sich inhaltlich mit dem Asylbegehren des Antragstellers beschäftigt. Damit soll verhindert werden, dass die Menschen zwischen den Ländern hin und her geschoben werden und keiner bereit ist, ihnen Schutz zu gewähren. Das erleben wir gerade im Mittelmeer.

Was würde dies für Flüchtlinge in der EU konkret bedeuten?

Ich sehe Situationen vor mir, in denen in grenznahen Bereichen irreguläre Lager entstehen, in denen sich Menschen ohne Gesundheitsversorgung und ohne Zugang zu einem Asylverfahren aufhalten. Das haben wir beispielsweise jetzt schon an der französisch-italienischen Grenze. Frankreich nimmt einseitige Zurückweisungen vor, und auf der italienischen Seite sitzen die Menschen dann fest. Viele von ihnen hätten dabei einen Anspruch auf Asyl.

Kanzlerin Angela Merkel hat als Kompromissvorschlag bilaterale Abkommen zwischen einzelnen EU-Ländern vorgeschlagen. Wie ist das zu bewerten?

Die Grundsituation ändert sich dadurch nicht. Bilaterale Abkommen zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten müssen den Vorrang des europäischen Rechts genauso beachten wie einzelstaatliches Handeln. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass Mitgliedstaaten Vereinbarungen miteinander treffen, um die Anwendung der Dublin-Verordnung zu erleichtern. Nur dürfen mit solchen Abkommen keine Rechte infrage gestellt werden, die Flüchtlinge nach der Dublin-Verordnung genießen. Mit bilateralen Abkommen kann EU-Recht nicht ausgehebelt werden.

Sollte die Forderung nach den Zurückweisungen durchkommen - welche Möglichkeiten gäbe es, juristisch dagegen vorzugehen?

Die Europäische Kommission kann ein Verfahren anstrengen und Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Das ist eine langwierige Angelegenheit. Kurzfristig können Schutzsuchende ein deutsches Verwaltungsgericht einschalten und sich den Zugang zum Asylverfahren einklagen. Wenn es gelingt, jemanden anwaltlich zu unterstützen, schätze ich die Erfolgsaussichten eines Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz als sehr hoch ein.

EU-Staaten schließen auch vermehrt mit Ländern wie Libyen oder Ägypten bilaterale Abkommen ab, um Flüchtlingsbewegungen einzudämmen. Wie ist das zu bewerten?

Bei den EU-Außengrenzen stellt sich die Frage einer Verletzung des Prinzips der Nichtzurückweisung. Dies ist ein völkerrechtlicher Grundsatz, der besagt, dass niemand in einen Staat zurückgewiesen werden darf, in dem ihm schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Welche Rolle spielt die Klärung der Asyl- und Migrationsfrage für die Europäische Union?

Ich glaube, dass es sich um eine zentrale Frage handelt. Die Alternative, dass jeder EU-Staat für sich das Asylrecht auf nationaler Ebene verwirklicht, würde zu einem Wettlauf beim Absenken der Schutzstandards führen. Ein menschenrechtskonformes Asylsystem kann ich mir nur vorstellen, wenn es als europäisches verwirklicht ist.

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