Soziale und Investitionsoffensive als Alternative

Jürgen Klute und Axel Troost über Entvölkerung, Rückzug des Staates aus der Fläche und Flüchtlingspolitik in der Linkspartei

  • Jürgen Klute und Axel Troost
  • Lesedauer: 11 Min.

War die hohe Zahl der Flüchtlinge, die 2015 nach Europa und damit auch nach Deutschland kamen, tatsächlich die Ursache für das Erstarken der AfD? Dafür spricht zunächst einmal die Tatsache, dass zeitgleich mit der verstärkten Ankunft von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Mittleren Osten die Zahl der Wählerinnen und Wähler der AfD deutlich zugenommen hat.

Innerhalb der (gesellschaftlichen) Linken hat diese Entwicklung zu heftigen Kontroversen über die richtige politische Haltung zu Flucht, Migration und Asyl wie auch über den politisch richtigen Umgang mit der AfD geführt. Diese Kontroversen dauern nach wie vor an.

Ein Teil der Linken sieht den Nährboden der AfD in einer Verschärfung der Konkurrenz um Arbeitsplätze und Sozialleistungen infolge der Ankunft der Flüchtlinge und will daher die Zuwanderung deutlich einschränken.

Auf dem Parteitag der LINKEN vor eineinhalb Wochen hat es eine Klarstellung zu diesem Punkt gegeben. Im Leitantrag, der mit deutlicher Mehrheit angenommen wurde, heißt es, dass die LINKE weiterhin für offene Grenzen eintritt. Die Forderung nach offenen Grenzen ist mit drei ergänzenden Forderungen verbunden: Der Forderung nach Bekämpfung der Fluchtursachen, der Forderung nach einer sozialen Offensive für alle in Deutschland lebenden Menschen, deren Lebensbedingungen prekär sind, und der Forderung nach legalen Fluchtwegen.

Damit hat die Partei mit deutlicher Mehrheit entschieden, sich nicht von der AfD vor sich her treiben zu lassen und sich nicht rhetorisch an die AfD heranzurobben. Damit eröffnen sich Möglichkeiten für politische Alternativen nicht nur zur AfD, sondern auch zur Politik der Bundesregierung.

Es gibt plausible Argumente dafür, dass nicht die Zuwanderung der Nährboden für rechte Populisten ist, sondern Abwanderungsprozesse. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev verweist seit Längerem darauf, dass Abwanderungsprozesse Wähler und Wählerinnen in die offenen Arme rechter Populisten treiben.

Im konservativen Lager der Bundesrepublik wird die Analyse von Krastev wohl nicht auf offene Ohren stoßen. Denn die Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, stünden im krassen Gegensatz zum konservativen Mantra der rechtlich verankerten sogenannten Schuldenbremse und der schwarzen Nullen.

Mit dem Leitantrag vom letzten Parteitag hat die LINKE nun eine Chance, politische Alternativen zum verbreiteten rechten Diskurs verstärkt in die öffentliche Debatte zu bringen, die nicht die Rechte von Flüchtlingen, Migranten und Asylsuchenden infrage stellen, und gleichzeitig soziale Probleme, die keineswegs neu und unbekannt sind, offensiv anzugehen. Gelänge ihr das, dann käme das auch den Menschen zugute, die seit Langem aufgrund einer konservativen ausschließlich an Wirtschaftsinteressen und globaler Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Politik auf Bundesebene gezwungen sind, in prekären Lebensverhältnissen zu leben. Ein Ende dieser konservativen ausschließlich nationalen Wirtschaftsinteressen verpflichtete Politik der Bundesregierung käme darüber hinaus der EU sehr zugute, die zugleich die im Folgenden skizzierte Alternative EU-weit ihrerseits mit ihren Finanzinstrumenten unterstützen könnte.

Abwanderung und Ausdünnung

Ivan Krastev hat in einem Interview mit dem Wiener »Standard« anlässlich der Wahlen in Ungarn die bereits in seinem Essay »Europadämmerung« entwickelte These, dass nicht die Zuwanderung, sondern die Abwanderung vor allem junger Menschen den Nährboden für rechte Populisten bilde, erklärt. Auch für Deutschland gelte das, betonte Krastev: »Es gab in Deutschland eine Studie, die gezeigt hat, dass in Ostdeuschland, wenn die Auswanderung in einer Region sehr hoch war, dies ein viel besserer Prognosefaktor für den Erfolg der AfD bei Wahlen war, als wenn man auf Einwanderung geachtet hat«, so Krastev in dem Interview.

Abwanderung aus ländlichen Gebieten ist in den östlichen Bundesländern tatsächlich ein großes Thema. Und zwar nicht erst seit gestern. Dort hat die Abwanderung in den letzten zwei Jahrzehnten zu Verwaltungsreformen geführt, in deren Folge die staatliche Präsenz – einschließlich des staatlichen Machtmonopols in Form der Polizei – in der Fläche massiv ausgedünnt wurde. Die Wege zu Ämtern wurden länger, da in kleineren Städten kaum noch öffentliche Verwaltungen vertreten sind. Auch der öffentliche Nahverkehr wurde ausgedünnt. Die Versorgung mit zentralen Dienstleistungen wie Arztpraxen, Post und Sparkassen sowie die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs ist in kleinen Gemeinden nur mehr begrenzt gewährleistet. Nicht zuletzt sind im ländlichen Raum die Erwerbsarbeitsplätze dünn gesät. Wer also nicht in Kreisstädten oder mittelgroßen Städten lebt, spürt die Folgen der Ausdünnung der Infrastruktur in Folge der massiven Abwanderungsprozesse aus diesen Gebieten tagtäglich. Diese Erfahrungen beschleunigen ihrerseits noch einmal die Abwanderung vor allem junger Menschen.

Aber auch in den alten Bundesländern gibt es ein Stadt-Land-Gefälle. Und innerhalb der Ballungsgebiete, wie etwa dem Ruhrgebiet, gibt es Stadtteile, in denen sich die Bürger und Bürgerinnen ebenfalls abgehängt und von der Politik vergessen sehen, was sich in der hohen Stimmenzahl für die AfD in diesen Stadtteilen bei der letzten Bundestagswahl 2017 widerspiegelt.

Die Zustimmung zur AfD resultiert nicht zwingend aus individueller Armut, sondern vor allem aus der Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur, also aus der politisch herbeigeführten öffentlichen Armut, die zur Vernachlässigung und zum teilweisen Verfall der öffentlichen Infrastruktur führt.

Dass die betroffenen Bürgerinnen und Bürger mit dieser Entwicklung unzufrieden sind, dass sie sich von »der Politik« vergessen und abgehängt, nicht mehr wertgeschätzt fühlen, überrascht nicht.

Begründet wurden die Ausdünnung der öffentlichen Infrastruktur in der Regel mit zu hohen Kosten, also mit der Notwendigkeit, öffentliche Ausgaben reduzieren zu müssen.

Flüchtlinge gaben Anstoß für Erstarken der AfD

In diese zuvor schon schwierige Situation hinein sind 2015 die Flüchtlinge gekommen. Es gibt Stimmen vor Ort, die sagen, dass nicht die Ankunft der Flüchtlinge der Grund für die Proteste und das Erstarken der AfD war, sondern dass die Flüchtlinge nur den Anstoß dazu gegeben haben. Und zwar deshalb, weil trotz jahrelanger Behauptung von politischer Seite, es sei kein Geld da für den Erhalt öffentlicher Infrastruktur, plötzlich ausreichend Geld vorhanden war, um die ankommenden Flüchtlinge zu versorgen. Die Beobachtung, dass plötzlich doch mehr Geld vorhanden ist, als über Jahre behauptet wurde, erzeugt bzw. bestätigt bereits vorhandenes Misstrauen gegenüber »der Politik«.

Außerdem standen die ankommenden Flüchtlinge sofort im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Während die Erfahrung der ortsansässigen Bürgerinnen und Bürger, immer mehr in Vergessenheit zu geraten und keine Bedeutung mehr für »die Politik« zu haben, nie die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen hat.

Die Flüchtlinge haben also etwas sichtbar gemacht: Es gibt ausreichend Geld trotz aller gegenteiligen Behauptungen seitens »der Politik«. Und: Die Not der Flüchtlinge zieht alle Aufmerksamkeit von Politik und Medien auf sich. Für die alltäglichen Probleme in den abgehängten Landstrichen und Stadtteilen interessiert sich hingegen niemand.

Vor diesem Hintergrund erscheint die Mahnung von Ivan Krastev an Politikerinnen und Politiker, sich mehr mit den Folgen von Abwanderung und vernachlässigten Stadtteilen zu befassen, durchaus schlüssig.

Unterstützung erfährt Krastev im Übrigen durch den Bürgermeister der belgischen Kleinstadt Mechelen, Bart Somers. In einem Interview mit dem »Spiegel« vom Januar beschreibt Somers, wie er in 17 Jahren Mechelen verändert hat und wie er der stramm rechten Partei Vlaams Belang den Nährboden entzogen hat (der Vlaams Belang fiel während der Amtszeit von Somers von einem Drittel der Wählerstimmen auf zuletzt 8,7 Prozent).

Zwar hat Mechelen nicht mit Abwanderung zu kämpfen gehabt, aber es gab in Mechelen Viertel, in denen sich die Bewohnerinnen abgehängt und vergessen vorkamen. Während die Partei Vlaams Belang darauf mit einem rassistischen Programm antwortete, hat Bart Somers auf Investitionen gesetzt: Auf Investitionen in die personelle und in die technische Infrastruktur. Es wurden Streetworker und Beratungspersonal, aber auch zusätzliche Polizisten zur Bekämpfung der hohen Kriminalität eingestellt.

Die Investitionen in die technische Infrastruktur hatten vor allem das Ziel, den BürgerInnen in Problemvierteln das Gefühl zu geben, dass sie nicht vergessen sind. Somers wörtlich dazu im »Spiegel«-Interview: »Parallelgesellschaften verhindert man auch, indem man dafür sorgt, dass sich die Bewohner armer Viertel als gleichwertige Bürger fühlen. Wer Teil einer Gemeinschaft ist, greift sie nicht an. Wir haben als Erstes in Problemvierteln aufgeräumt, die Straßen gereinigt, Spielplätze angelegt und Parks aufgehübscht. Dann bekam die Polizei die besten Autos und die Straßenreinigung moderne Reinigungsgeräte.«

Mechelen ist heute ein praktisches Beispiel dafür, wie man rechten Populisten erfolgreich begegnen kann. Für die politische Auseinandersetzung mit der AfD würde das ganz konkret bedeuten, nachhaltige und substantielle Investitionen in die soziale und technische Infrastruktur in den Gebieten und Stadtvierteln zu tätigen, die von Abwanderung und Vernachlässigung geprägt sind.

Jede Stadt ein soziales Rathaus

Praktisch heißt das: Im ländlichen Bereich ist in jeder Stadt ein aus öffentlichen Mitteln finanziertes soziales Rathaus einzurichten. In einem solchen Rathaus sind ein Bürgerbüro, eine Arztpraxis, eine Sparkasse mit Automatenstelle und zumindest wöchentlichen Beratungsmöglichkeiten, nötigenfalls eine Verkaufsstelle für Güter des täglichen Bedarfs, eine Polizeistation, die auch personell besetzt ist, sowie Versammlungs-/Veranstaltungsräume vorzuhalten. Auch in den öffentlichen Nahverkehr ist zu investieren, um unter Nutzung moderner Technik die Mobilität zu bezahlbaren Preisen für die Nutzerinnen und Nutzer zu verbessern.

Um das soziale Leben zu intensivieren, sind für jeden Ort Gemeinwesenarbeiterinnen (Männer sind selbstverständlich mitgemeint) bereitzustellen, die regelmäßigen Kontakt zu den BürgerInnen halten und soziale Aktivitäten entwickeln. Dazu könnten zum Beispiel auch Geschichtskreise gehören, um die Dorfgeschichte einschließlich der DDR-Geschichte vor Ort aufzuarbeiten und öffentlich darzustellen.

Dabei geht es zunächst einmal um die AfD-Hochburgen, und zwar nicht nur im Osten, sondern auch um die im Westen, die es ebenfalls gibt.

Wie schon oben gesagt, steht eine solche Antwort, die ganz in der Linie der zweiten Komponente des Abschnittes des linken Leitantrags zur Flüchtlingspolitik steht, nämlich einer sozialen Offensive – ergänzt um eine Investitionsoffensive, im Gegensatz zum Mantra der konservativen Sparpolitik und Schuldenbremse.

Linkes Alternativprogramm muss finanzierbar sein

Es steht also die Frage im Raum, wie ein solches linkes Alternativprogramm finanziert werden kann. Unter den gegebenen Bedingungen einer Schuldenbremse ist das in der Tat schwierig. Dass diese Politik nicht fortgesetzt werden kann angesichts des Politischen Preises, den sie kostet, liegt aus einer demokratischen Perspektive aber ebenso auf der Hand (das gilt auch für die EU-Ebene).

Die nötigen Finanzierungsinstrumente sind auch hinreichend öffentlich bekannt. Schon vor Jahren hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik vorgeschlagen, den Solidaritätszuschlag in einen Regionalentwicklungsfond – ganz im Sinne des Grundgesetzes, dass in seinem Geltungsbereich gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen sind – umzuwandeln, aus dem Gebiete nicht nach der Landkarte gefördert werden, sondern nach Bedarf. Das wäre allerdings nur ein minimaler Beitrag zu dem, was zu leisten ist. Denn dadurch würden noch keine zusätzlichen Finanzquellen für Investitionen erschlossen, sondern nur vorhandene sinnvoller genutzt.

2016 und 2017 hat die Arbeitsgruppe in ihren Jahresgutachten (Memoranden) dazu Vorschläge unterbreitet, die in Rechnung stellen, dass eine kurzfristige Änderung der mittlerweile von der Bundesregierung auch auf EU-Ebene durchgesetzten und rechtlich verankerten Sparpolitik unwahrscheinlich ist. Deshalb greift die Arbeitsgruppe das Konzept der Goldenen Regel auf, das auch auf EU-Ebene in der Diskussion ist (vgl. Memorandum 2016, S. 161ff.). Im Kern bedeutet die Goldene Regel, dass Kredite für öffentliche Investitionen nicht auf die staatliche Verschuldungsgrenze angerechnet werden. Welche Definition öffentlicher Investitionen dabei angewandt werde sollte, wird dort ausführlich erläutert.

Zur kurzfristigen Finanzierung dieser Investitionen schlägt die Arbeitsgruppe eine erhöhte Kreditaufnahme vor, die angesichts der günstigen Konditionen derzeit ohne große Zinsbelastungen für die öffentlichen Haushalte möglich ist.

Da die Erhöhung der öffentlichen Investitionen und eine Aufstockung der öffentlichen Ausgaben für den Staatskonsum, so die Arbeitsgruppe weiter, zu einer Erhöhung des privaten Konsums (höherer Arbeitskräftebedarf, Umsätze, die auch dem privaten Wirtschaftssektor zugutekommen) und damit zu einer erhöhten gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führt, fließt ein Teil der Ausgaben in Form von Steuern und Abgaben an den Staat zurück, so dass sich ein Teil der zusätzlichen staatlichen Ausgaben selbst finanziert (Selbstfinanzierungseffekt).

LINKE-Steuerkonzept enthält ausreichend Vorschläge

Der dann verbleibende Teil der zusätzlichen Staatsausgaben wäre über eine veränderte Steuerpolitik zu finanzieren. Hierzu sind im LINKEN-Steuerkonzept genügend Forderungen entwickelt worden. Dieses Konzept könnte durch die EU-Förderinstrumente ergänzt werden.

Wie das Beispiel Mechelen zeigt, lassen sich durch ein solches Investitionsprogramm Veränderungen der Rahmenbedingungen erreichen, sodass erfolgreich Rassismus und rechte Populisten bekämpft und ein respektvolles und angstfreies Zusammenleben von Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen erreichen werden kann. Ganz nebenbei wäre damit auch eine Stärkung der Binnenwirtschaft verbunden, die aus sozialen, wirtschaftlichen und (europa)politischen Gründen lange überfällig ist.

Eine solche alternative Steuerpolitik dürfte dem größeren Teil derer, die nach diesem Konzept mehr Steuern zahlen müssten als bisher, erklärbar sein, vor allem wenn sichergestellt ist, dass die Mehreinnahmen an Steuern sinnvoll und letztlich zum Wohle einer großen Mehrheit der Gesellschaft ausgegeben werden und damit anti-demokratischen und menschenrechtsfeindlichen Parteien der Nährboden entzogen wird.

Jürgen Klute ist Sozialpfarrer, Publizist und war von 2009 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Axel Troost ist Wirtschaftswissenschaftler und einer der stellvertretenden Vorsitzenden der Linkspartei. Von 2005 bis 2017 war Troost Mitglied des Deutschen Bundestages​.

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