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Merkel und die Schicksalsfrage
In ihrer Regierungserklärung verteidigte die Kanzlerin ihre Flüchtlingspolitik
Wer erwartet hatte, dass sich Angela Merkel anmerken lassen würde, unter welchem Druck sie derzeit steht, der wurde am Donnerstag enttäuscht. Auf dem Podium des Bundestags stand eine aufgeräumt wirkende und vor allem kämpferische Regierungschefin, die ihren europa- und flüchtlingspolitischen Kurs mit der ihr möglichen Vehemenz verteidigte. Dabei umging sie in ihrer Regierungserklärung zum EU-Rat und zum anstehenden NATO-Gipfel lange das Thema Flüchtlingspolitik. Stattdessen unterstrich sie die Bedeutung der NATO und des transatlantischen Bündnisses. Die CDU-Chefin bekräftigte dabei noch einmal ihre 2014 gemachte Zusage, dass Deutschland in Zukunft bis zu zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Verteidigungsausgaben stecken werde. Doch vorerst setzt sich die Regierung bescheidenere Ziele: Bis 2024 werde man den Verteidigungshaushalt auf 1,5 Prozent des BIP erhöhen, so Merkel. Wobei auch die Zahl hinter dem Komma für zusätzliche Milliardenausgaben steht.
Sie verwies sie auf die »breite Tagesordnung«, die der am Donnerstag begonnene EU-Gipfel bewältigen müsse. Bevor sie auf die Agenda einging, erfolgte ein Lob in eigener Sache: »Der Euro ist stabil, die Länder sind wettbewerbsfähiger geworden«, unterstrich Merkel, die sich mit der von ihr durchgedrückten Austeritätspolitik den zweifelhaften Ruf als »Zuchtmeisterin Europas« erworben hat.
Im Windschatten der Diskussion um die richtige Migrationspolitik könnten die EU-Staats- und Regierungschefs auf dem Brüsseler Gipfel finanzpolitische Weichenstellungen vornehmen. Merkel waren in ihrer Rede vor allem drei Punkte wichtig: Die Vollendung der Bankenunion, der Ausbau des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu einer zu einer Art europäischer Währungsfonds und die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Staaten, die die Kanzlerin erhöhen will. Was Merkel nicht erwähnte: Für die Debatte über die Reform sind auf dem Gipfel gerade einmal zwei Stunden vorgesehen. Der Streit um die Flüchtlingspolitik drängt alles andere in den Hintergrund.
Merkel versuchte erst gar nicht, den Eindruck zu erwecken, dass man auf dem Gipfel alle diesbezüglichen Probleme lösen werde. »Das gemeinsame Asylsystem werden wir auf dem Rat nicht verabschieden können«, erklärte die Kanzlerin. Damit machte sie auch deutlich, dass das von der CSU gesetzte Ultimatum unrealistisch ist. CSU-Chef und Bundesinnenminister Horst Seehofer, den man am Donnerstag vergeblich auf der Regierungsbank suchte, will in anderen EU-Staaten registrierte Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen. Sollte Merkel auf dem Gipfel in dieser Frage keine Lösung erzielen, werde er als Minister die Bundespolizei mit der Zurückweisung beauftragen, so seine Drohung, die CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am Mittwoch noch einmal bekräftigt hatte.
Merkel räumte ein, dass man beim Thema Migration, noch nicht da sei, »wo wir sein wollen«. Von den sieben nötigen Rechtsakten sei man sich bislang bei »fünf einig«. Zwei Probleme aber blieben: Gleiche Standards bei der Gewährung von Asyl und die neue Dublin-4-Verordnung, »die auch die solidarische Verteilung von Flüchtlingen beinhaltet«. Dabei seien sich alle in Europa einig, »illegale Migration zu reduzieren«, so Merkel.
Die Regierungschefin verwies auf bereits erzielte Erfolge, die auch als Blaupause für künftige Abkommen dienen könnten. So habe man die Länder das westlichen Balkans zu sicheren Herkunftsländern erklärt und im Gegenzug Arbeitserlaubnisse erteilt. Etwas Ähnliches schwebt ihr offenbar auch für afrikanische Länder vor. Wenn man wolle, dass aus Afrika weniger Migranten nach Europa kommen, müsse man »mit afrikanischen Staaten sprechen« und versuchen, »Abmachungen zu treffen«, sonst werde man einen Erfolg haben. Schon jetzt sei die Migration stark rückläufig, unterstrich Merkel. So seien die Seeanlandungen im Mittelmeer um 77 Prozent und in der Ägäis gar um 97 Prozent zurückgegangen. Die zu Tausenden im Meer Ertrunkenen dürften dabei einige Prozentpunkte ausmachen.
Schließlich kam sie auf die »Sekundärmigration« zu sprechen. Also jene Geflüchteten, die innerhalb der EU unterwegs sind, um etwa in Deutschland Asylanträge zu stellen. Hier müsse man »besser ordnen und steuern«. Dabei müssten zwei Dinge gelten: »Es kann sich der Bewerber nicht das Land aussuchen, in dem er einen Asylantrag stellt« und zweitens könne man nicht die Länder, »in denen alle Ankünfte stattfinden, völlig alleine lassen«. Man werde überlegen, »wie wir unter einer Koalition von willigen Ländern bessere Regelungen treffen - nicht unilateral, nicht unabgestimmt, nicht zu Lasten Dritter, sondern im Gespräch mit Partnern«. Europa habe viele Herausforderungen zu meistern, so die Kanzlerin. »Aber die mit der Migration könnte zu einer Schicksalsfrage für die EU werden. Entweder wir bewältigen das und zwar so, dass man auch in Afrika und anderswo daran glaubt, dass uns Werte leiten, oder aber niemand wird mehr an unser Wertesystem glauben«, resümierte Merkel. Die Passagiere des Flüchtlingsrettungsschiffs »Lifeline« durften bereits erleben, wie stabil dieses Wertesystem ist.
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