Tonis Timeline

Der zeitgenössische Boom von Fake News und Verschwörungstheorien zeigt, warum die Liberalen die Welt nicht mehr verstehen

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 13 Min.

Derzeit ist Toni - er heißt eigentlich etwas anders - vom Bildschirm verschwunden. Seine Freunde sorgen sich schon: Wo immer Du bist, lass’ Dich nicht unterkriegen - solche Dinge schreiben sie auf seine Facebookseite. Und es ist wirklich ziemlich auffällig, dass Toni dort seit Monaten nichts mehr einstellt, denn zuvor war er außerordentlich aktiv. So ist auch der Verfasser etwas besorgt, denn er kennt Toni schon aus dem Sandkasten.

Dass hier in aller Breite von Toni die Rede sein wird, liegt am Charakter seiner Postings. Toni ist nämlich Ausdruck eines viel diskutierten Phänomens: Er findet Illuminaten-Grüße auf Promibildchen und seziert die Netze der »Bilderberger«. Er ist zwar kein »Reichsbürger« - viel zu sehr Goa-Hippie für eine solche Frakturschrift-Ideologie -, hat sich aber zur »souveränen politischen Einheit« erklärt, was eine individualistische Version des Gedankens vom Austritt aus dem Staat darzustellen scheint. Er findet es durchaus plausibel, dass die Bundesrepublik im Grunde nichts anderes als eine GmbH sei. Und hat er all das mal wieder durchschaut, haut er der Welt sein Wissen um die Ohren: »Bääääääääämmmm!!!«

»Fake News«, Verschwörungstheorien und so weiter entziehen unserer Demokratie den Boden, heißt es allenthalben. Beruhe doch diese darauf, dass man »sich in der öffentlichen Diskussion auf dieselben Zahlen, Statistiken und Fakten seriöser Institutionen« verlasse und aus diesen im rationalen Streit der Argumente nur konträre Forderungen ableite, dozierte unlängst Alex Rühle in der »Süddeutschen Zeitung«: »Was aber, wenn Fakten den Menschen gar nicht mehr als unumstößliche Fakten gelten?« Ähnliches beobachtete der amerikanische TV-Satiriker Stephen Colbert schon 2006: »Früher hatte jeder das Recht, seine eigene Meinung zu haben, aber nicht seine eigenen Fakten« - heute hingegen zählten nur noch »Sichtweisen«. Da muss man dagegenhalten! Trotzig prangte es etwa monatelang auf der Internetseite der »taz«: »Truth’s not dead!«

Was aber ist es, das die »Wahrheit« mit dem Tod bedroht? Als Antwort serviert die Publizistik zuallererst ein technizistisches Argument: Das Internet ist schuld! Sind aber jene »Filterblasen« der Suchmaschinen, die Ergebnisse an ältere anpassen, tatsächlich so mächtig? Sind sie nicht, befand 2017 Katharina Zweig von der TU Kaiserslautern. Die Unterschiede bei verschiedenen Nutzern seien bemerkbar, aber weniger alarmierend, als oft angenommen. Und jene Freundesblasen in sozialen Medien schließen ja »seriöse« Nachrichten nicht aus. Dieselben werden nur ganz anders gelesen: Schaut zwischen den Zeilen nicht eine geheime Nachricht hervor? In Tonis Timeline zum Beispiel werden Zeitungsartikel gelegentlich anhand der »Illuminaten-Zahl« analysiert: Welche Worte oder Akronyme ergeben sich, wenn man in jeder 23. Zeile den 23. Buchstaben unterstreicht?

Diesen manifesten Willen zum Unglauben kann Technik allein ganz offenkundig nicht erklären. Es muss also mehr dahinter stecken - zum Beispiel feindliche Mächte! Gerade in jüngster Zeit ist oft ein sozusagen dämonologisches Argument zu hören, das jenes technizistische ergänzen soll. Die Bedrohung der rationaldemokratischen Öffentlichkeit gehe von finsteren, aber konkreten Akteuren aus: Fake-News-Fabriken, Trollarmeen und Verschwörungsfarmen, die im Auftrag Putins oder auch nur aus kommerziellen Gründen jene Blasen mit bösartigem Unsinn immer wieder aufblasen. Nun ist es sicher richtig, dass Propaganda heute bessere Vertriebswege hat als vor vielleicht 15 Jahren. Sie ist interaktiv geworden, sie kann ungekannte Eigendynamiken gewinnen, indem sie - wie es der Netzsprech so unnachahmlich grauenvoll ausdrückt - »viral geht«. Umweht aber solche personalisierenden Erklärungen eines ja weit verbreiteten Phänomens nicht selbst schon etwas Verschwörungshaftes?

Neben der Struktur der Medienlandschaft und den Intentionen der Absender der Nachrichten bleibt als dritter Ansatzpunkt die Empfängerseite. Diesbezüglich heißt es zumeist, die Welt sei heute so furchtbar komplex, dass schlichte Gemüter sie brachial vereinfachen müssten! Das klingt zunächst nicht unplausibel. Hat sich aber jene »Komplexität« gerade in jüngster Vergangenheit tatsächlich derart epochal verdichtet? Andere Diagnosen lauten denn auch schlichter auf galoppierenden Massenwahnsinn: Eine »dauererregte Reflexionsbereitschaft, die nicht durch Urteilskraft gebändigt wird« führe schnell »ins Pathologische«, zitiert vor einigen Wochen die »Welt« einen Experten: »Sollten Verschwörungstheoretiker zum Psychiater?«

Natürlich ist etwas dran an allen diesen Erklärungen. Jemand wie Toni, der - inmitten einer properen Welt badischen Reihenhaus-Kleinbürgertums - als »bildungsferner« Außenseiter ohne Vater in einer winzigen Wohnung aufwuchs und heute seinen kaputten Rücken als Lagerist zu Markte trägt, konnte seine Weltsicht vor den interaktiven Medien nicht publizieren. Auch wäre er ohne diese Medien vielleicht bei »Bild« und Glotze hängen geblieben; jene Parallelnachrichten, die er nun selbst mit einigem medientechnischen Autodidaktengeschick aufbereitet und weiterverbreitet, hätten ihn vielleicht gar nicht erst erreicht. Und womöglich »funktionierte« er dann auch tatsächlich besser, hätte weniger Fragen und weniger Hader.

Dennoch sind diese Versuche, dem Postfaktischen auf die Spur zu kommen, auch in Kombination unbefriedigend. Dass solche Weltdeutungen verfügbar sind, dass ihre Adepten sich weltweit austauschen können, erklärt nicht hinreichend, warum das auch wirklich und zunehmend geschieht. Es muss dafür Anstöße geben, die sich jenseits der medientechnischen Möglichkeiten, der Senderintentionen und auch der individuellen Konstitution der Empfänger bewegen, also gesellschaftliche Gründe. Und um diesen nachzuspüren, muss man wohl noch etwas weiter ausholen.

Ist es zum Beispiel wirklich so einfach mit »richtig« und »falsch«, mit »Wahrheit«, »Fakten«, »Empirie« gegenüber »alternativen Fakten«, »Lüge« und »Wahn«? Unumstößlich ist diese Gegenüberstellung im Nahbereich: Hat das Kind die Vase zerdeppert und streitet es ab, ist das geflunkert. Behauptet ein Präsident nachweisbar falsch, seine Angelobungsfeier sei die größte aller Zeiten gewesen, ist das eine Lüge. Doch jenseits des Nahbereichs ist weniger Eindeutigkeit. Nicht zuletzt in jenem Feld, das stets gegen die Verschwörungen in Anschlag gebracht wird, nämlich in der Wissenschaft.

Vom zynischen Niklas Luhmann bis zu postmodernen Konzepten des »Sentipensar« - des »Denkfühlens« - reicht die soziologische und philosophische Skepsis gegenüber der Annahme einer substanziellen »Wahrheit« jenseits der Akte des Beobachtens. Klassisch ist die Frage, ob Tomaten rot »sind«: nicht für Bienen und auch nicht bei Nacht, sondern nur für gesunde menschliche Augen bei ausreichendem Licht. Und wer Geisteswissenschaft für Geschwafel hält, denke an den notorischen »Wellen-Teilchen-Dualismus« in der Quantenphysik: Ob dieses Licht, ohne das kein Leben wäre, aus Teilchen besteht oder als Wellenbewegung zu beschreiben ist, lässt sich nicht sagen, weil beide Modelle funktionieren.

Wissenschaft tritt also nicht in die Welt und sagt: Nun offenbare dein Wesen; das ist das Geschäft der Religion. Wissenschaft stellt gezielte Fragen und erhält - nur - auf diese konkrete Antworten, die wir Fakten nennen können. Diese können durchaus widerstreiten: So ist es durchaus ein Fakt, dass »Deutschland (…) ein (…) wirtschaftlich (...) erfolgreiches (…) Land« ist, wie jüngst der Psychologieprofessor Christian Stöcker in »Spiegel online« verkündete, wo sich seine Kolumne um »Hysterie und Fakten« kümmert. Fakt ist aber auch, was wenig später nicht nur die »FAZ« berichtete: »Es muss bloß (…) die Waschmaschine kaputtgehen, und etwa jeder dritte Deutsche stößt an seine finanziellen Grenzen. Materielle Not zieht sich (…) weit durch die Gesellschaft.«

Keiner dieser Fakten ist faktischer als der andere. Sie antworten nur auf verschiedene Fragen. Diese aber sind sozialer Herkunft und wandelbar. »Rassenkunde« galt unter anderem Namen noch nach dem Zweiten Weltkrieg als seriös; in der Pädagogik wurden lange bestimmte geschlechtliche Verhaltensmuster als Fakten angesehen, denn sie ließen sich beobachten. Heute hat sich indes der dazu alternative Fakt durchgesetzt, dass sich umgekehrt die von diesen Beobachtungen ausgehende Erziehung jene älteren Fakten selbst geschaffen habe. Dem Psychologieprofessor Stöcker ist insofern vorzuhalten, dass sein Blick auf Durchschnittswerte nur wenig über die Realität erfragt. Wissenschaftlich falsch ist sein Satz aber nicht, denn er benutzt überprüfbare Daten.

Das einzusehen ist beileibe keine Absage an die Wissenschaften - gerade nicht an diejenigen, die sich mit Geist und Gesellung der Menschen befassen. Denn besonders diese sind sehr hilfreich, um zu verstehen, was genau jüngst mit der Wahrheit geschieht. Man muss sich nur ein paar Gedanken machen, die über das wohlfeile Kopfschütteln über irre gewordene Fake-News-Troll-Blasen-Opfer hinausreichen.

Der erste ist ein historischer: Trifft denn die verbreitete Behauptung überhaupt zu, »früher« oder »bisher« habe sich politische Meinungsbildung auf aufgeklärter Grundlage allgemein anerkannter Fakten vollzogen? Wann soll diese gute alte Zeit gewesen sein? Gemeint sind wohl die westlichen Nachkriegsdemokratien. Doch hilft bei der Frage nach dem Stellenwert des Rationalen in Politik und Gesellschaft vielleicht die Verfremdung, die sich einstellt, wenn man noch etwas weiter zurückgeht - etwa bis zur Französischen Revolution, die ja gemeinhin als epochemachende politische Manifestation von Aufklärung und Vernunft gilt.

Tatsächlich basierte nämlich deren Sieg keineswegs bloß auf hehren Idealen. Im Gegenteil begann die Revolution auf dem Land in der »Großen Furcht« von 1789: Unter den Bauern, von Missernten geschlagen, verbreiteten sich regelrechte Panikwellen: Der Adel schicke Banden von Bettlern, Betrügern und Plünderern! Das war eine Verschwörungstheorie wie aus dem Bilderbuch - aber gegen dieses Phantom bewaffneten sich die Dörfer zunächst. Erst dann wurde daraus ein Angriff auf die feudale Ordnung, auf den sich politische Ideen aufsetzen ließen.

Daran knüpft sich eine philosophische Überlegung: Wie kommt es, dass dieser Umstand selbst im »aufgeklärten« 20. Jahrhundert fast nur von Spezialhistorikern wie Georges Lefebvre und Francois Furet diskutiert wurde? Es liegt an einer späteren Heroisierung der Überlieferung: Die von der Aufklärungsphilosophie ausgehende Historik hatte Motive wie kollektive Ängste und Bauernglauben als quasi unreine Triebkräfte aus der Geschichte gestrichen.

Der - anderweitig höchst problematische - Philosoph Arnold Gehlen hat das Massaker vermessen, das die Aufklärung bei deren »Wiederentdeckung« an der antiken Philosophie verübte: Weit gefasste Begriffe wie »Episteme« - Wissen - oder »Empirie« wurden radikal reduziert: Ersteres auf abwägende Bewusstseinsvorgänge und zweiteres letztlich auf statistisch Zählbares. Was etwa bei Aristoteles sonst noch gemeint war - körperliches Erleben, diffuse Erfahrung, unreflektierte Fertigkeiten, Sprech- und Denkroutinen, geronnene Überlieferung, Emotion, Instinkt - galt nun als rückblickend irrelevant, weil künftig zu überwinden.

Um nun von Aristoteles zum Nachdenken über Tonis Timeline zurückzukehren: Genau diese begriffliche Verengung auf das »Rationale«, das den Erkenntnismodus des Liberalismus im Kern ausmacht, zeigt sich, wenn die heutigen Debatten über den Verschwörungsboom so verschiedene Vokabeln wie »Wahrheit«, »Fakten«, »Realität«, »Wirklichkeit«, »Empirie« und so weiter synonym verwenden. Eine solche Flut vermeintlicher Bedeutungsgleichheit weist ja immer auf massive Bedeutungsverluste hin. Und gerade diese Verluste machen die liberale Kritik jener »epistemischen Krise«, die der zitierte Alex Rühle im Angesicht des Postfaktischen ausruft, so hilflos.

Wenn es nämlich wirklich so ist, dass sich politische Meinungen »bisher« auf allgemein anerkannte Fakten gründeten, lag das natürlich nicht etwa daran, dass die Allgemeinheit früher »vernünftiger« gewesen wäre - sondern daran, dass Allgemeinheit existierte, dass also etwas Allgemeines empirisch war, erlebbar, fühlbar und instinktiv greifbar. In einer bestimmten Zeitspanne - nämlich in »Trente Glorieuses«, also den Zeiten des fordistischen Booms (West-)Europas von den 1950ern bis in die 1970er - gab es einen weithin geteilten Eindruck, dass sich bei allen Unterschieden das Leben aller in gleicher Richtung bewege - wovon historisch des Soziologen Helmut Schelskys heute überholtes Bild vom »Fahrstuhleffekt« zeugt. Es gab in dieser Zeit die geteilte Erfahrung, dass am Ende alle mit Wasser kochten und auf »harte Arbeit« der »wohlverdiente Ruhestand« folgte.

Diese populäre Empirie des Allgemeinen überlagerte partikulare Weltsichten, die ja schon damals etwa die erfahrbare Macht ökonomischer Eliten in allerlei Erzählungen übersetzten, die den heutigen Geschichten von den »Bilderbergern« oder der »BRD-GmbH« durchaus ähneln.

Heute dagegen brechen - wie 1789 - diese partikularen, um sich selbst kreisenden Weltsichten durch, weil jener kittende Horizont eines im Leben als legitim und wohlgeordnet erfahrenen Allgemeinen »in der Spätmoderne immer weniger einen Ort« hat, wie der ubiquitäre Kultursoziologe Andreas Reckwitz jüngst sehr richtig schreibt. Es werden also nicht primär die Einzelnen plötzlich zu Spinnern, es ist der gesellschaftliche Zusammenhang, der sich »idiotisiert« - ganz im altgriechischen Wortsinn, der ja unter »Idiotie« die Abwesenheit eines Begriffes vom Gemeinwesen versteht.

Dieser Allgemeinheitsverlust hat einen Hintergrund im Sieg derjenigen Politik, die Maggie Thatcher einst mit den Worten zusammenfasste, so etwas wie Gesellschaft - das Allgemeine - gebe es gar nicht: Ein brutaler Satz, der sich nun in einer Privatisierung der Perspektiven bewahrheitet, die derjenigen der Daseinsvorsorge quasi nacheilt. Deswegen begann all das ganz folgerichtig in den USA ein oder zwei Dekaden früher als hierzulande. Der Verlust des Allgemeinen hat aber auch eine eigenständige Kulturdynamik: »Besonderheit« lautet der heutige Imperativ der Mittelschicht, er manifestiert sich in feinst unterschiedenen Konsumstilen und einer rasenden Multiplikation von »Identitäten«. Und nimmt man deren Prämisse von der Wirkmacht von Sprechakten ernst, gehört auch die postmoderne Philosophie hierher, die ja das »Ende der großen Erzählungen« nicht nur diagnostiziert, sondern auch predigt.

All das kann Liberalismus kaum verstehen, weil seine Denkweise das Allgemeine als abgeleitet und das Individuum als Ausgangspunkt annimmt. Schon bei der liberalen Fiktion des »homo oeconomicus« funktioniert das nicht - und erst recht nicht als allgemeine Theorie von Geschichte und Gegenwart.

»Gefährlich« ist das Verschwinden des Allgemeinen in der Tat. Es stimmt bedenklich, dass 2017 nach einer Untersuchung der Otto-Brenner-Stiftung im Osten mehr als die Hälfte und im Westen 45 Prozent dem öffentlichen Rundfunk wie den Zeitungen nicht mehr glauben. Auch wenn diese Zahlen derzeit konstant sind und jene Ungläubigen natürlich nicht gleich Verschwörungstheorien anhängen, zeigt sich hier ein Potenzial, das in unabsehbare Bewegung geraten kann. 1789 konkretisierte sich die Panik um die vermeintlich vom Adel geschickten Landstreicher emanzipatorisch, nämlich gegen den Adel. Heute hingegen fürchten Politologen, es könnte dabei bleiben, die »Landstreicher« unserer Tage zu jagen und so nolens volens die Verhältnisse zu schützen. In den Filterblasen rieche es nach autoritärem Charakter, schreiben Oliver Decker, Alexander Yendell, Johannes Kiess, Elmar Brähler, die Autoren jener Otto-Brenner-Studie - und das ist ein Fakt, also methodisch sauber zu erfragen.

Bei Toni ist von all dem trotzdem keine Spur. Nichts von dem, was er jemals gepostet hat, hetzt gegen Schwächere, will Minderheiten abdrängen oder gar Fremde vernichten. Das war schon als Kind beim Weltraumspielen nicht anders: Die Buben aus den Reihenhäusern wollten die Außerirdischen natürlich immer gleich abknallen, was denn auch sonst. Toni aber wollte mit ihnen zusammenarbeiten - worauf die Ersteren ihm erstaunt zu entgegnen pflegten: Gegen wen denn?

Dass Toni nach vielen Jahrzehnten Kontakt aufnahm zu einem dieser Kindheitsfreunde, den er vermutlich für »Elite« hält, dass er diesem seine Theorien zeigen wollte und ihn zu fragen schien, was er davon hält, hat bei aller Bitternis auch einen Gestus von Harmonie: Wir alle können nichts für diese Magie, die mich hier unten hält und dich dort oben, sagt seine Timeline. Es walten verdeckte Mächte! Gewiss: Die BRD ist keine GmbH, sondern ein parlamentarisches System, das die Anliegen der Reichen denen der Armen gegenüber bevorzugt. Illuminaten gibt es nicht und die Bilderberger sind keine geheime Weltregierung, sondern nur Reiche und Mächtige, die sich auf diesen und anderen Treffen vernetzen. Aber dennoch liegt Toni mit seiner so eigenen Empirie im Grunde ja nicht ganz falsch.

Es mag also als Fakt wissenschaftlich zu ermitteln sein, dass solche verzerrten Erzählungen über geheime Mächte und verborgene Strippenzieher »anschlussfähig« sind für allerlei Reaktionäres bis zum Antisemitismus. Keineswegs aber - so viel sollte die Linke aus der jüngeren Hegemonietheorie gelernt haben - schließen sich diese Verbindungen auch zwangsläufig. Wer A sagt, muss noch lange nicht B sagen, denn es gibt keine »Bedeutung an sich«. Eine gesellschaftsverändernde Linke muss daher Kontexte von Solidarität schaffen, in denen sich diese aus der Gesellschaft Ausgetretenen eben nicht gegen die Landstreicher, sondern den Adel orientieren können - statt sich lautstark in die erste Reihe der Aluhut-Spötter zu stellen.

Für den staatlichen »Kampf gegen Fake News« und Verschwörungstheorien hingegen gilt, dass subventionierte »Faktenchecker« absehbar so wenig nutzen werden wie jene Bildungsoffensive in Sachen Geschichte, Politik und Medienkompetenz, die Alex Rühle in der »Süddeutschen Zeitung« als Gegenmittel vorschlägt. All das ist zwar immer wünschenswert, doch wird es nicht helfen, den Leuten noch offensiver einzubimsen, dass sie in der besten aller Welten lebten. Der Staat müsste dafür sorgen, dass es wieder möglich ist, von allen auf einmal zu sprechen, wenn man etwa nach Deutschlands wirtschaftlicher Lage fragt. Er müsste bewerkstelligen, dass das Allgemeine wieder erlebbar ist und nicht bloß Inhalt von Sprechblasen.

Dies müsste man allerdings nicht nur erkennen und wollen, sondern auch längerfristig durchhalten: Denn was sich in zwanzig Jahren zertrümmern lässt, braucht im Wiederaufbau mindestens dreißig.

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