Paradoxe Entwicklung

Lena Tietgen meint, dass die 68er an ihren widersprüchlichen Botschaften gescheitert sind

  • Lesedauer: 2 Min.

Spricht man in der Erziehungswissenschaft von einem pädagogischen Paradoxon, meint man damit, dass Erziehung den Menschen zur Mündigkeit führen soll, die Erziehung selbst aber eine Zwangsinstitution ist. Diesem Paradoxon fiel die 68er-Bewegung zum Opfer. Nachvollziehbar forderten ihre Protagonisten vor 50 Jahren eine Abkehr von autoritären Erziehungsstilen. Ziel war es, die Ursachen und Folgen des Faschismus zu benennen und dessen Erziehungs- und Moralvorstellungen den Garaus zu machen. Mehr als politisch notwendig war daher die Forderung nach Abschaffung geschlossener Heime und Psychiatrien. Die Demokratisierung der alten Bundesrepublik konnte nur unter Berücksichtigung der Menschen vorankommen, denen zuvor das Leben als nicht lebenswert abgesprochen wurde. Alle antiautoritären, anti-pädagogischen Konzepte folgten diesem Paradigma.

Aber auch eigene Kinder sollten eine andere, eine liberal-libertäre Erziehung genießen. So wurde die Reformpädagogik nicht nur stark gemacht, sie sollte alle Wunden heilen. Um eine freie Entwicklung zu ermöglichen, wurde jeglicher Autorität abgeschworen. Die Folgen sind hinlänglich bekannt. Der sogenannte Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule, einer reformpädagogischen Vorzeigeeinrichtung, in der Schülerinnen und Schüler jahrelang Opfer sexualisierter Gewalt wurden und an der die Täter lange Zeit vom bildungsbürgerlichen, linksliberalen Umfeld in Schutz genommen wurden, haben die 68er moralisch diskreditiert.

Ihre auf Individualität und Autonomie orientierte Pädagogik wurde im Laufe der Zeit mit neoliberalen Vorzeichen versehen und zur Umstrukturierung des Bildungssektors genutzt. Heute dient auch die Reformpädagogik vielfach dem Selbstoptimierungs-Paradigma des Neoliberalismus; die Solidarität und die Selbstreflexion bleiben auf der Strecke.

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