Werbung

Wird Meister Früchtl obdachlos?

Weil Erbpachtverträge auslaufen, fürchten Münchner Genossenschaftler um ihre Wohnungen

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Wolfgang-Früchtl-Straße im Münchner Stadtviertel Neuhausen sieht ein bisschen so aus, wie man sich alte Arbeiterviertel gerne vorstellt: Die Straße eher schmal, die Hausfassaden eher monoton mit einem Hauch von Mietskaserne, kein Grün weit und breit. Hier gibt es noch Kneipen, die der Gentrifizierungwelle widerstanden - 3,20 kostet die halbe Maß Helles in der Nachbarschaftsgaststätte »Weiß Blau« und ist damit mindestens einen Euro vom Bierpreis in der Münchner Innenstadt entfernt.

Ähnliches gilt für die Mieten. Denn die Wohnblocks hier in Neuhausen gehören der Eisenbahner-Baugenossenschaft München-West und sind für Münchner Verhältnisse mit neun Euro pro Quadratmeter noch einigermaßen erschwinglich. Fragt sich nur, wie lange noch. Denn der Erbpachtvertrag läuft in den kommenden Jahren aus - und dann könnte der Bund als Eigentümer die Grundstücke verkaufen. Federführend dabei ist Wolfgang Scheuer (CSU) als der zuständige Bundesverkehrsminister.

Es war im Winter 1908, als der Stellwerksmeister Wolfgang Früchtl zusammen mit 60 anderen Eisenbahnern eine Baugenossenschaft gründete, um für anständigen Wohnraum zu sorgen. Bis 1912 waren bereits mehr als 400 Wohnungen errichtet worden. Heute gehören zur Genossenschaft 108 Häuser mit 1181 Wohnungen - sie sind inzwischen gleichsam eine exotische Insel im Meer der Münchner Irrsinnsmieten. Schmilzt doch günstiger Wohnraum in der Stadt dahin wie Butter in der Sonne, wie es die Stadträtin Gülseren Demirel ausdrückte. Doch 503 der Genossenschaftswohnungen wurden auf Grundstücken der Bahn mit Erbpacht gebaut und solche Verträge laufen nun aus - bundesweit.

Viele dieser Grundstücke sollen meistbietend verkauft werden. Mit der gegenwärtigen Preisentwicklung in deutschen Großstädten aber können die Baugenossenschaften nicht mithalten. So ist es auch bei der Baugenossenschaft München-West in Neuhausen. Sie ist eine der ersten von vielen Genossenschaften, die vom Auslaufen der Erbpacht betroffen sein werden.

Allein in München betrifft dies bis zum Jahr 2050 sieben Genossenschaften. Das Problem in München-Neuhausen lässt sich konkret beziffern: Der Eigentümer, das Bundeseisenbahnvermögen (BEV), verlangt für die zwei Grundstücke mit den 503 Wohnungen einen Preis von 7000 Euro pro Quadratmeter. Die Genossenschaft müsste in der Konsequenz insgesamt 126 Millionen Euro aufbringen, zahlbar zur Hälfte bereits im Jahr 2025, die andere Hälfte im Jahr 2029. Durch eine Koppelung des Kaufs der zwei Grundstücke (Option zum Kauf 2029 erlischt wenn 2025 nicht gekauft werden kann) werde es, so sagen die Baugenossen, »faktisch unmöglich gemacht, beide Grundstücke zu erwerben«.

Herr des Verfahrens ist Andreas Scheuer (CSU), vormals Generalsekretär seiner Partei und heute Chef des Bundesverkehrsministeriums in Berlin. Die CSU hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach zum Thema bezahlbares Wohnen hervorgetan. Zum Beispiel im Jahr 2013, als unter dem damaligen Finanzminister Markus Söder die Bayerische Landesbank 32 000 Wohnungen im Staatsbesitz (GBW) an private Investoren verkaufte. Angeblich unter Druck der Europäischen Union, wie es hieß. Fünf Jahre später kündigte Markus Söder, jetzt bayerischer Ministerpräsident, in seiner Regierungserklärung an, durch eine erst zu gründende staatliche Wohnungsbaugesellschaft (»Bayernheim«) 10 000 neue Wohnungen bauen zu wollen.

Beide Vorgänge wurden jetzt von dem grünen Bundestagsabgeordneten Dieter Janecek aus München hinsichtlich der Neuhausener Genossenschaftswohnungen aufgegriffen. Die CSU müsse Lehren aus dem »Desaster des GBW-Verkaufs ziehen« und nicht erneut Wohnungen aus Staatsbesitz meistbietend veräußern, so der Abgeordnete in einem Brief vom 18. Mai dieses Jahres an Minister Scheuer. Würde die Genossenschaft den Kauf über Kredit finanzieren und auf die Mieter umlegen, so heißt es im Brief weiter, wären die Mieten nicht mehr mit den genossenschaftlichen Zielen vereinbar und viele Bewohner könnten sich ihre Wohnungen nicht mehr leisten. Janecek an Scheuer: »Vor dem Hintergrund des dramatischen Anstiegs der Münchner Mieten in den vergangenen Jahren, der dahinter steckenden Schicksale und des gefährdeten sozialen Zusammenhalts fordern wir Sie daher dazu auf, nicht mit staatlichen Vermögenswerten an den Bodenpreisspekulationen mitzuverdienen.« Der Genossenschaft sollte vielmehr ein realistischer Kaufpreis angeboten werden, der auch in Zukunft sozialverträgliche Mieten erlaube. Als letzter Anker käme auch eine Verlängerung des Erbbaurechts in Frage.

Auch die betroffenen Mieter der Wohnungsbaugenossenschaft haben sich inzwischen für den Erhalt ihrer Wohnungen zusammengeschlossen. Da ist Petra Kozojed, sie hat einen Friseurladen in der Wolfgang-Früchtl-Straße. Zusammen mit anderen hat sie eine Mieterinitiative ins Leben gerufen. Der Grund: »Ich will hier wohnen bleiben«, sagt die blonde Friseurin.

Inzwischen haben die Mieter eine Online-Petition an den Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht, rund 1900 Unterstützer haben bereits unterschrieben. Darin heißt es, im Fall der Baugenossenschaft München-West sei zwar zum Ende des Erbpachtvertrages ein Kaufangebot gemacht worden, das aber nicht zu bezahlbaren Mieten führe. Dadurch könnten die sozialen Rechte aller Beschäftigten nicht mehr angemessen berücksichtigt werden. »Wir bitten Sie daher das BEV (Bundeseisenbahnvermögen - die Red.) zu beauftragen, mit seinem Verwertungsauftrag differenziert umzugehen, d.h. besonders in Regionen mit hohem Druck auf den Wohnungsmarkt ihre Mieter zu schützen und ihnen sicheren, bezahlbaren Wohnraum in den Baugenossenschaften dauerhaft zu gewährleisten«, so die Forderung der Unterzeichner.

Neben dem Grünen-Abgeordneten Janecek hat auch der Bezirksausschuss Neuhausen-Nymphenburg in Sachen Genossenschaftswohnungen ein Schreiben an Verkehrsminister Scheuer gesandt. Bei beiden Briefen steht die Antwort noch aus.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.