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Zickzackwege und Purzelbäume
Kerstin Decker erzählt das Leben der Franziska zu Reventlow, die vor 100 Jahren starb
Sie hatte Pech: Sie war ein Mädchen. Mädchen zählten in ihren Kreisen nicht. Sie hatten sittsam zu sein und keine Ansprüche zu stellen, und wenn Zukünftiges erwogen wurde, kamen ohnehin nur Herd und Wochenbett in Betracht. Franziska zu Reventlow, eingesperrt in eine Familie, die ihr die Luft nahm und jede Bewegungsmöglichkeit, hat die vorgeschriebene Rolle nicht angenommen. Sie fiel, geboren 1871 in einem Schloss vor Husum, aus dem Rahmen, sehr früh schon. Ihrem sechsten Geburtstag fieberte sie mit allen Sinnen und aller Kraft entgegen, weil sie glaubte, endlich ihre Kleider loszuwerden, die oft schmutzig wurden, was ihr jedes Mal eine Tracht Prügel eintrug. Nun würde sie ein Junge werden. Jungen wurden geliebt und verzogen. Aber das Wunder zeigte sich nicht. Die kleine Comtesse blieb, was sie war, und musste sehen, wie sie mit Mutter, Vater, den Brüdern, der Herabsetzung, den Drohgebärden, den drastischen Strafen und ihrem weiteren Leben klar kam.
Aus dem schwarzen Schaf der Grafensippe ist eine leuchtende Kultfigur geworden, die Königin der Münchner Bohème, die Lebenskünstlerin, Malerin und Literatin. Keine war so wie sie, so unangepasst, so unbeirrt in ihrem Glücksanspruch, wild entschlossen, über das eigene Leben selber zu bestimmen. Tapfer und unbeirrt ging sie ihren Weg. Dass er in die Armut führte, in Zeiten der Not, konnte ihre Grundsätze nicht erschüttern. Sie lebte schon eine Weile in München, als sie ihre ersten Jahrzehnte in einem Roman schilderte. Rilke, entzückt von dem Buch, schrieb daraufhin 1904 seine Verehrung in einem Brief an die Titelheldin Ellen Olestjerne, der gleich mit einem Bekenntnis begann: »Ich finde, daß Ihr Leben eins von denen ist, die erzählt werden müssen …«
Das ist inzwischen mehrmals passiert. Es gab 2004 im kleinen Igel-Verlag auch eine Ausgabe ihrer Werke, Briefe und Tagebücher, fünf blaue Leinenbände, die 2010 noch einmal in schlichterer Broschur aufgelegt wurden, dazu, im Herbst 2008, eine große Ausstellung in Lübeck. Es ist lange her und beinahe vergessen, und zu fürchten ist, dass vielen der Name dieser außergewöhnlichen Frau, falls er denn mal fällt, wenig sagt. Kerstin Decker kann das ändern. Sie hat die Geschichte der Franziska zu Reventlow neu erzählt, und wer ihre Bücher über Else Lasker-Schüler, Paula Modersohn-Becker, Lou Andreas-Salomé und Elisabeth Förster-Nietzsche kennt, wird wahrscheinlich wissen, was ihm bevorsteht: ein Lesefest.
Kerstin Decker, eine Biografin mit eigener, suggestiver Handschrift, hat erst vor zwei Jahren, in ihrer Geschichte der Nietzsche-Schwester Elisabeth, mit ihrer überraschenden Sicht auf Leben, Leistung und Energie dieser Frau fasziniert. Sie macht auch hier, die Zickzackwege der Franziska zu Reventlow im Blick, aus der Biografie eine große, hinreißende Erzählung, ein elegantes, stilistisch blitzendes Porträt. Zu ihren Stärken gehört ja seit langem, dass sie einen Ton gefunden hat, der in diesem Genre selten ist. Ihre Sätze, zuweilen salopp, mal fein mit Ironie unterlegt, entwickeln einen Schwung, der die Lektüre zum Erlebnis macht.
Beschrieben wird ein großer Lebens-, mitunter auch Überlebenskampf. In der Welt, aus der Franziska zu Reventlow kam, lernte man als erstes, sich den Konventionen zu fügen. Frauen waren, wie sie schrieb, »im besten Falle Wohnstubendekorationen« oder »brauchbares Haustier«. Junge Frauen, meinte sie 1890 in einem Brief, »sollen gewaltsam in eine Schablone gepreßt werden, was dabei herauskommt, können Sie an den Durchschnitts-jungen Mädchen und Frauen sehen, ungebildete, bleichsüchtige, spitzenklöppelnde Geschöpfe …« So wollte sie nicht sein.
Ausgestattet mit einem »Uebermaß von Lebenskraft«, mit Fantasie und Kunstsinn, wehrte sie sich stur gegen alle Bemühungen, sie zu zähmen. Sie ließ sich weder Schreiben und Malen verbieten, noch den Spaß am Leben austreiben. Sie setzte den Besuch des Lehrerinnenseminars in Lübeck durch, interessierte sich weiter für moderne Literatur, floh nach Hamburg, lernte den Juristen Walter Lübke kennen, der ihr 1893 den Malunterricht in München ermöglichte und den sie im Jahr darauf auch heiratete. Die Ehe bestand allerdings nur kurze Zeit. Sie brach aus, wurde geschieden und 1897 Mutter eines vergötterten Sohnes. Nichts hielt sie nunmehr zurück, das Dasein und die Liebe auszukosten.
Sie sei wie jemand gewesen, notierte sie 1897, »der nicht normal seinen Weg gehen konnte, immer in Purzelbäumen«. Zehn Jahre später heißt es: »Ich bin gelaufen, gelaufen, hingefallen, wieder aufgestanden.« Sie wolle, so ihr Tagebuch, alles an sich reißen, alles maßlos genießen. Sie hielt sich daran, und wenn es schief ging, rappelte sie sich erhobenen Hauptes wieder auf. Sie lebte, wie Kerstin Decker schreibt, mit der Sehnsucht nach fester Bindung und der Unfähigkeit, sie zu ertragen, landete im Elend, wurde aus der Wohnung geworfen, konnte sich, immer in Geldnot, weder Kleider noch Schuhe kaufen, suchte erotische Abenteuer, verdiente sich ihren Unterhalt auch schon mal im Bordell bei Madame X., wo es angenehmer war als in ihrem schäbigen Atelier, nahm diesen und jenen Gelegenheitsjob an, lebte unter Künstlern, fing eines Tages an, für den Albert-Langen-Verlag Werke französischer Autoren zu übersetzen, eigenwillig und selbstbewusst auch hier, und ging selber unter die Schreibenden, verfasste Erzählungen, Romane, Essays.
In München spazierte Franziska zu Reventlow als Hetäre, Femme fatale, ledige Mutter und Skandalgräfin herum. In Wahrheit, sagt Kerstin Decker, gehörte sie zur Avantgarde weiblicher Existenz, und wer hier der unfassbar abenteuerlichen, brillant und souverän mitgeteilten Lebensgeschichte folgt, sieht eine Frau, die sich über ihre zahlreichen Affären, ihr damals als höchst anstößig empfundenes Verhalten nicht definieren lässt. Sie wird gern als Kronzeugin weiblicher Emanzipation gesehen. Das lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, aber Kerstin Decker macht mit Recht darauf aufmerksam, dass es bei ihr einen Kampf um Emanzipation nie gegeben hat. Sie war frei, war es von Anfang an, auch wenn sie dafür teuer bezahlen musste. Denn was immer in ihrem Leben geschah: Es geschah nicht gegen ihren Willen.
Das letzte Wort in diesem Buch hat Erich Mühsam. Keiner kannte Franziska zu Reventlow so lange wie er. Als er hörte, dass sie am 26. Juli 1918 nach einem Sturz vom Fahrrad gestorben war, fiel es ihm schwer, daran zu glauben. Und er schrieb: »Ich grüße diese Tote mit inniger Verehrung. Sie trug, außer ihrem Namen, nichts an sich, was vom Moder der Vergangenheit benagt war. In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken, sie war ein Mensch, der wußte, was Freiheit bedeutet.«
Kerstin Decker: Franziska zu Reventlow, Berlin Verlag, 379 Seiten, geb., 26 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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