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- Seenotrettung im Mittelmeer
Die »Aquarius« im Dilemma
Rettungsschiff ist mit unklarer Rechtslage konfrontiert - und bereitet sich auf das Schlimmste vor
Seit Februar 2016 fährt die »Aquarius«, das Rettungsschiff von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen, Einsätze im Mittelmeer. Rund 30 000 Menschen konnte die rund 30-köpfige Crew nach eigenen Angaben bis heute helfen. Der Einsatz, der am Mittwochabend von Marseille aus startet, ist jedoch anders als sonst. Er ist gefährlicher, der Ausgang - ungewiss. »Es gibt nur Dilemmata«, sagt Verena Papke, die Geschäftsführerin von SOS Méditerranée Deutschland im Berliner Büro der Initiative. 97 Szenarien wurden von der Crew durchdiskutiert.
Was Papke meint: Italien hat seine Häfen für Seenotretter dicht gemacht und die Verantwortung für die Koordinierung der Rettungseinsätze im zentralen Mittelmeer weitestgehend an Libyen übertragen. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO hatte Ende Juni die EU-geförderte libysche Seenotleitstelle anerkannt. Ein Schritt, den zahlreiche Nichtregierungsorganisationen kritisierten. Sie müssten laut Seerecht den Anweisungen der Libyer im Falle einer Einsatzkoordinierung Folge leisten.
Wenn die »Aquarius« aber nun die wahrscheinlichen Forderungen von Tripolis befolgt und die geretteten Menschen nach Libyen zurückbringt, würde sie wiederum gegen das Seenotrecht und Völkerrecht verstoßen. Nach der Einschätzung von Papke erfüllt weder Libyen noch ein anderes nordafrikanisches Land derzeit die Anforderungen für einen »sicheren Hafen«: Ein ordentliches Asylverfahren muss gewährleistet sein, eine Weiterreise möglich, Grundbedürfnisse erfüllt, für die Menschen an Bord darf keine Gefahr drohen.
Hinzu kommt: »Die libysche Seenotrettungsleitstelle ist keine kompetente Behörde«, sagt Papke. Weder sei sie jederzeit erreichbar, noch würden alle Mitarbeiter Englisch sprechen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages erklärte Mitte Juli in einer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei: »Weder die konkreten Koordinaten der libyschen SAR-Zone noch Kontaktdaten der Seenotrettungsleitstelle konnten im Rahmen der Recherchen ermittelt werden.«
Wenn nun wiederum die »Aquarius« die Anweisungen der Libyer verweigert und die Flüchtlinge ohne Erlaubnis zu einem europäischen Hafen bringt, drohen Strafen der EU-Behörden. Drei Rettungsschiffe ziviler Organisationen werden nach wie vor unter fadenscheinigen Gründen in Malta am Auslaufen gehindert. Die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Trapani führt gegen mehr als 20 Helfer wegen des Verdachts der »Unterstützung illegaler Migration« Ermittlungen.
Die Gefahr eines wochenlangen Umherirrens mit einem Schiff, auf dem Hunderte Flüchtlinge sind, ist konkret. Mitte Juni konnte die »Aquarius« erst nach einer Woche die spanische Stadt Valencia erreichen, nachdem Italien und Malta einen Hafen verweigert hatten. »Es gibt hier eine Überlappung verschiedener Rechtsbegriffe, aber am Ende ist es eine politische Entscheidung«, sagt Papke. »Wir werden kein Recht brechen, aber auch keiner Aufforderung nach unterlassener Hilfeleistung nachkommen.«
Aufgrund der erschwerten Bedingungen musste die »Aquarius« die vergangenen Wochen erstmals in ihrer Geschichte eine längere Pause in Marseille einlegen. Es galt sich strategisch, juristisch und technisch neu aufzustellen. »Für die Crew war es hart, im Hafen zu bleiben, während Menschen ertrunken sind«, sagt Papke. Nun verfüge das Schiff über ein neues Schnellboot, mehr Nahrungsmittel im Falle einer erzwungenen Wartezeit sowie eine Kühlkammer, um die »Würde der Verstorbenen zu respektieren«.
Einen besonderen Augenmerk legt die Hilfsorganisation in ihrem neuen Einsatz auf die Öffentlichkeitsarbeit. »Den besten Schutz bietet maximale Transparenz«, erklärt Papke. Diplomatische Gespräche sowie ein öffentliches Online-Logbuch sollen über die Aktivitäten des Schiffes aufklären, haltlose Verdächtigungen ausräumen - und Gefahren wie Beobachtungen dokumentieren.
Auf »onboard-aquarius.org« können Interessierte sich über die Einsätze informieren. »Alle Rechtsverstöße werden aufgezeichnet«, so Papke. Im Einklang mit Datenschutzregelungen sollen bei möglichen Vorfällen auch Videos und Fotos veröffentlicht werden.
Eine Erklärung von SOS Méditerranée, die unter anderem besagt, dass man keine Anweisungen befolgen werde, die dazu führen, tatenlos zuzusehen, wie Menschen ertrinken, wurde von zahlreichen Prominenten unterschrieben. Unterzeichner sind neben verschiedenen Politikern die Musiker Jan Delay, Herbert Grönemeyer sowie der Wissenschaftler Thomas Piketty. In voraussichtlich drei Tagen kommt die »Aquarius« in der Such- und Rettungszone vor der libyschen Küste an.
Während das Rettungsschiff vor einer ungewissen Fahrt steht, haben sich im Falle des auf Malta festgehaltenen Schiffs »Sea Watch 3« neue Erkenntnisse ergeben. Die maltesische Regierung verhindert das Auslaufen des Bootes wegen einer angeblich fehlerhaften Registrierung im niederländischen Verkehrsregister. Eine Überprüfung hat nun ergeben, dass die Vorwürfe haltlos sind. Der Bericht liegt der maltesischen Regierung vor, diese lässt das Schiff aber trotzdem nicht auslaufen.
»Die Untersuchung zeigt, dass alle Voraussetzungen für eine Registrierung als Sportboot im Flaggenregister der Niederlande erfüllt sind«, das hat das Verkehrsministerium in Den Haag den maltesischen Behörden in einem Schreiben vom 24. Juli offiziell mitgeteilt. Der Bericht wurde verfasst von Inspekteuren des niederländischen Ministeriums für Infrastruktur und Wassermanagement. Dennoch erhielt »Sea-Watch« ein Schreiben der Malteser Behörde, in dem sie die Anfrage, den Hafen zu verlassen, ablehnte. Die Behörden in Valetta behaupten, dass sie weitere Erläuterungen von den niederländischen Behörden zu bestimmten Aspekten benötigen.
Die Kapitänin der »Sea-Watch 3«, Pia Klemp, hat kein Verständnis für die Haltung der maltesischen Regierung: »Wie kann es sein, dass unser Schiff in Malta immer noch blockiert ist? Und das, obwohl die Niederlande zu dem Schluss kam, dass mit unserem Schiff alles in Ordnung ist?«
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