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Aufstand in Orange

Eine Massenbewegung gegen die europäische Asylpolitik? Ein Gespräch mit den Gründer*innen der Seebrücke

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 5 Min.

Erst kam die Fassungslosigkeit. Dann die Ohnmacht. Dann die Lethargie. Und dann kam die Seebrücke.

Es ist ein warmer Sommermorgen irgendwo zwischen Kreuzberg und Neukölln. An einem klapprigen Cafétisch in Sichtweite des Landwehrkanals sitzen Lisa Meier und Jean Peters. Während die Wespen um ihre Köpfe fliegen und der Verkehr vorbeirauscht, zeichnen die beiden nach, was in den letzten Wochen geschehen ist. Was als kleine Gruppe in sozialen Netzwerken begonnen hat. Und was sich innerhalb von kurzer Zeit zu einer bundesweiten Bewegung entwickelt hat.

»Abschottung bedeutet massenhaftes Sterben im Mittelmeer«, sagt Meier. »Und viele Menschen sind an einem Punkt angelangt, wo sie nicht weiter zusehen wollen.« So ging es auch den beiden Berliner Aktivist*innen. Als dem deutschen Rettungsschiff »Lifeline« mit mehr als 200 Geflüchteten an Bord Ende Juni von mehreren Staaten die Einfahrt verweigert wurde, starteten sie eine Gruppe über den Messengerdienst Telegram. Ein loser, »bunt zusammengewürfelter« Zusammenhang entstand. Spontan wurde eine Demonstration in Berlin organisiert. Die Geburtsstunde der Seebrücke.

12 000 Menschen gingen in der Hauptstadt auf die Straße. Doch nicht nur dort. In vielen anderen Städten wurde demonstriert - und wird es bis heute. Von Kiel bis Konstanz gehen immer noch fast täglich Menschen unter dem Label Seebrücke auf die Straße. Auch in sozialen Netzwerken wächst die Bewegung. Unterstützung erhält sie von Prominenten wie dem Schauspieler Jan Josef Liefers und dem Moderator Jan Böhmermann, der eine Spendenkampagne für die »Lifeline«-Besatzung initiierte.

Ob er überrascht von den Ausmaßen der Proteste sei? Ja, das schon, meint Peters. Allerdings: Viele Menschen hätten genau auf so etwas wie die Seebrücke gewartet. »Wir füllen ein Vakuum. Es scheint, als habe die Seebrücke die Lethargie bei vielen Menschen aufgebrochen.«

Und schnell ging es nicht mehr nur um die »Lifeline«, sondern um die europäische Asylpolitik allgemein. Um das Aushebeln von Recht im Mittelmeer. Und um grundlegende Prinzipien von Menschlichkeit.

Doch wer steht hinter der Seebrücke? Das Bündnis ist breit. Die Bewegung wird von verschiedenen linken Organisationen und Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft getragen. Neben Sea-Watch und der Interventionistischen Linken sind auch Oxfam und das Kunstkollektiv Peng! dabei, bei dem der Aktionskünstler Peters aktiv ist. Mit spektakulären Protesten kennt er sich aus: Einmal rief er mit seiner Gruppe zum kollektiven Klauen gegen globale Ungleichheit auf. Ein anderes Mal wurde unter dem Namen von Vattenfall eine falsche Pressekonferenz abgehalten. Nun unterstützt Peters die Seebrücke. Denn: »Durch die Seehofers und Salvinis verschiebt sich die Grenze des Sagbaren und Machbaren spürbar nach rechts. Ich will einen Beitrag leisten, dass sich das Pendel von rechts wieder zurückbewegt.« So wie Peters geht es vielen.

Bemerkenswert ist, dass viele Seebrücke-Aktivist*innen vorher nicht politisch aktiv waren und nicht aus den klassischen linken Milieus kommen. Was sie eint: Die Unzufriedenheit mit der europäischen Asylpolitik. Proteste seien für viele Neuland gewesen, einige hätten zum ersten Mal eine Demonstration angemeldet.

So auch Paul Kaluza. Der 23-Jährige lebt in Freiberg. Die Stadt liegt in Mittelsachsen, hat eine Universität und eine kleine Studierendenszene. Die AfD ist stark - und auch die örtliche SPD macht es Linken schwer. Der Stadtrat beantragte Anfang des Jahres sogar einen Zuzugstopp für Geflüchtete. »Es ist nicht immer leicht für Menschen wie mich«, meint Kaluza. »Aber wenn die Frage, ob ertrinkenden Menschen geholfen werden muss, diskutabel erscheint, ist es höchste Zeit, laut zu widersprechen«. Und das tat er. Mitte Juli meldete der Student eine Demonstration an und zog zusammen mit rund 100 Demonstrant*innen durch die Kleinstadt. Den Protest bezeichnete Kaluza als ein »menschliches Zeichen aus der sächsischen Provinz«.

Und so sieht das Prinzip der Seebrücke aus. Statt ausschließlich Großdemonstrationen in den urbanen Zentren durchzuführen, wird auf dezentrale Aktionen gesetzt. Statt linksradikalem Klüngel gibt es breite Bündnisse. Statt Kader und Hierarchien sollen sich alle einbringen können. »Für uns ist wichtig, dass jede und jeder selbstständig etwas organisieren kann. Wir bieten bloß ein Dach«, sagt Peters. Mit Erfolg: Die Liste der beteiligten Städte wird mit jedem Tag länger. Peters lacht und meint: »Wir sind ein bisschen wie eine linke Pegida - nur zehnmal so schnell und nicht so Scheiße.«

Die Aktionen sind vielfältig. Mahnwachen, Raves, Flashmobs, Yogastunden. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Forderung, dass das Sterben auf dem Mittelmeer aufhören muss. Peters drückt das so aus: Eigentlich sei die Seebrücke eine »konservative Bewegung«, denn es gehe darum, bestehende Menschenrechte zu erhalten.

Und es gibt konkrete Forderungen. Die zentrale heißt: Schafft sichere Häfen. Gerade lokal müsse Druck aufgebaut werden, betont Meier. Städte können Zufluchtsstädte werden und sich solidarisch mit Geflüchteten zeigen. Oder sie könnten Fonds zur Finanzierung von Seenotrettungsschiffen einrichten. Dafür kämpfen die Aktivist*innen: in den Stadträten, in der Schule, in der Kirche.

Und wie geht es weiter? »Am besten wäre es natürlich, wenn wir uns übermorgen auflösen könnten«, meint Meier. Doch solange das Sterben im Mittelmeer andauert, rechte Populist*innen den Diskurs beherrschen und die Seenotrettung kriminalisiert wird, soll es weiter gehen. In den nächsten Wochen sollen europaweit Aktionen stattfinden. Aber allzu viel planen könne man aufgrund der Dramatik der Ereignisse sowieso nicht.

Am Samstag soll erst einmal Farbe gezeigt werden. Dann findet der »Day Orange« statt. Orange stehe symbolisch für Seenotrettung und Solidarität mit Geflüchteten - und hat sich zur Farbe der Bewegung entwickelt. »Ob Spange im Haar oder Fahne an der Hausfassade - wir rufen alle dazu auf, sich durch die Farbe orange solidarisch mit Geflüchteten zu zeigen«, sagt Meier. »Auch Karotten essen kann am Samstag ein Zeichen sein.«

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