Deutschland, deine Revolutionen?

An der Novemberrevolution erwies sich auch die Fähigkeit der Herrschenden, ihre Macht zu bewahren

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 9 Min.

Für wenige Wochen und Monate war Deutschland im Revolutionsfieber. Hoffnungen und Ängste lagen eng beieinander, Triumph und tödliche Niederlage ließen dem einfachen Soldaten, der Arbeiterin, dem Matrosen kaum Zeit zum Nach- und Durchdenken, brachten vor allem jene, die dieser Entwicklung eine Richtung geben wollten, Verdruss. Wie so oft war der Anfang berauschend:

»Die Novembertage waren überhaupt mehr ein Volksfest als eine Revolution. Man stand an einem Novembertage auf, ging auf die Straße, entdeckte rasende Autos mit roten Fahnen, dann und wann einen Soldaten, der mit fröhlicher Geste wohlversicherte Handgranaten durch die Luft schwang. Die Soldaten schrien: ›Es lebe die Republik!‹ und die Leute auf den Straßen lachten, lachten endlich nach vier schwarzen Jahren ohne Heiterkeit.« Der österreichische Schriftsteller Stefan Großmann ist fasziniert. »In diesen Novembernächten hat man in Berliner Vorort-Gasthäusern vor Freude getanzt. Nicht Herren im Smoking und nicht blendend aufgetakelte Damen, sondern Handwerker und Arbeiterinnen, Soldaten und Dienstmädchen tanzten. Zum ersten Mal war Berlin wieder fröhlich geworden. Aber die Novemberrevolution selbst ist den Berlinern geschenkt worden, sie haben sie nicht blutig erworben.« Und er ergänzt: »Erst im Dezember und in den Januartagen bekam Berlin sein Revolutionsgesicht.« Da ging die Feier blutig zu Ende.

Revolutionen, geglückte wie gescheiterte, sind notwendigerweise Herausforderungen. Wenn die bestehende Ordnung nicht mehr bewahrt werden kann, wenn gar neue Machtverhältnisse und radikale soziale Veränderungen, andere Eigentumsverhältnisse und ein Bruch mit jahrhundertealten Privilegien der Besitzenden gefordert werden, dann stehen Akteure, aber auch passive Zeitgenossen und die nachfolgenden Generationen vor Entscheidungsfragen. Ihr sozialer Platz in der Gesellschaft, ihre politischen und ideologischen Überzeugungen drängen zur Parteinahme, zu einem Pro oder Kontra. Das Heraushalten ist immer dann leicht möglich, wenn man sich nicht betroffen wähnt. Aber der Sog dieser Ereignisse bleibt unwiderstehlich, auch wenn der Einzelne glaubt, sich ihm entziehen zu können. Des sozialistischen Dichters Karl Bröger zeitgenössisches Revolutionsgedicht hatte das pathetisch vorweggenommen: »Ich bin ein Scheit im Brand, die Flamme wird mich fassen und eher nicht aus ihrer Qual entlassen bis neu und rein der stumpfe Geist geglüht. / Aufschlägt die Glut, Millionen Funken stieben, von Sturm und Braus durch Rauch und Qualm getrieben, bis aus dem Irren, Wirren, Hassen, Lieben dein morgenhelles Antlitz, Mensch, erblüht. / Brenn zu! Brenn zu!«

Die deutsche Revolution von 1918/19 war immer Zankapfel im politischen Tagesgeschäft wie in der Geschichtsschreibung. Lange verdrängt, »vergessen« im Westen Deutschlands und auch noch im vereinigten Land. Daran ändert die gegenwärtig wohlwollende Betrachtung dieser Revolution als »Geburtsstunde der deutschen Demokratie« wenig. Denn die offiziellen Geburtshelfer der deutschen Republik hatten wenig mit den Intentionen, den Idealen der aufbegehrenden Soldaten, Matrosen und Arbeiter zu tun. Sie wollten unter neuem Label den Fortbestand des kapitalistischen Deutschland, auch wenn seine imperialistischen Ambitionen mit dem Sieg der Entente-Mächte zurücktreten mussten. Die heute bei Teilen der deutschen Eliten, aber auch manchen Linken vorherrschende optimistische Lesart der Revolution und der Weimarer Republik als Vorläufer einer demokratischen Bundesrepublik verdrängt jene Ansätze, welche die Revolution kritischer interpretierten.

Dass die Reaktion von den Monarchisten bis zu den Faschisten das Weimarer »System« verabscheute, ist verständlich. Zu sehr erschütterte der Aufstand der Massen die gottgewollte Ordnung des Oben und Unten, zu sehr bedrohte die mit der Revolution aktiver werdende und sich organisierende radikale Linke nicht nur die Monarchie, sondern den Kapitalismus insgesamt. Selbst die demokratischen und sozialen Reformen wurden bereits als bedrohlich eingestuft. Das derzeitige Beschwören der neuen demokratischen Kontinuität 1918-1933 verdrängt aber vor allem die langjährige linke und linksliberale Kritik an der Novemberrevolution. Denn der Kaiser musste gehen, aber seine Generäle, Juristen, Bürokraten, Wirtschaftsbosse und selbst der Adel blieben. Sie arbeiteten mehrheitlich schon vor dem ersten Tag der Revolution an einem Rollback. Sie wollten statt einer demokratischen und sozialen Republik eine neue Diktatur, egal ob unter einem Kaiser, einem Ersatzkaiser in der Generalfeldmarschall-Uniform oder einem Führer. Hauptsache die Bedrohung von Kapital und Großgrundbesitz durch eine starke, an die Macht drängende Arbeiterklasse und ihre Parteien wurde abgewendet. Faschismus, Unterdrückung von Linken und Demokraten, Revanchekrieg waren die Folge.

Das zu begreifen erfordert aber, nach den Interessenlagen der Akteure zu fragen.

Da ist zunächst der Wille der Arbeiter im Blaumann oder im Uniformrock, am Fließband oder in der Schlange vorm Brotladen, den Krieg zu beenden, die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft zu ziehen und die Kriegsgewinnler mit Kapital oder Großgrundbesitz zur Kasse zu bitten. Die alten Eliten mit den Militärs an der Spitze hingegen wollten nur schnell heraus aus dem aussichtslosen Krieg und suchten jemanden, dem die Schuld an der Niederlage und den Kosten zugeschoben werden konnte. In Deutschland dämmerte aber eine radikale sozioökonomische Umwälzung herauf. Das Modell der Großgrundbesitzer hatte sich überlebt, sie hätten zugunsten der Bauern und Landarbeiter enteignet werden müssen. Die Privilegien des alten Adels und der »neuen« Kapitalistenklasse passten nicht in eine bürgerlich-demokratische Revolution, die in Deutschland 70 Jahre zuvor, 1848/49, niedergeschlagen und zwei Jahrzehnte später als Reichseinigung mit minimalen demokratischen Zugeständnissen und sozialen Beruhigungspillen umgesetzt wurde.

Der zu großen Teilen von Deutschland ausgehende Erste Weltkrieg hatte den deutschen Imperialismus und Militarismus zu voller Blüte gebracht und gleichzeitig die Überheblichkeit seiner Zielsetzungen wie das Abenteurertum seiner politischen und militärischen Eliten, aber auch die unersättliche Gier seiner Großkapitalisten und Großagrarier demonstriert. Mit dem Anspruch angetreten, die Karte Europas und idealerweise der Welt für den »Weltkaiser« Wilhelm II. neu zu zeichnen, endete das Unternehmen in einem militärischen und wirtschaftlichen Desaster. Zwar widerstanden die meist gut geführten, motivierten deutschen Soldaten trotz erheblicher Blutopfer bis zum August 1918 dem Druck der zahlen- und ressourcenmäßig weit überlegenen Entente-Truppen, lange konnte der Krieg außerhalb der deutschen Landesgrenzen geführt werden. Aber mit dem Scheitern der Sommeroffensive 1918 und angesichts des deutschen Expansionsabenteuers in den Überresten des russischen Imperiums nach dem Raubfrieden von Brest-Litowsk war die militärische Niederlage abzusehen. Dies begriff endlich auch die diktatorisch handelnde militärische Führung, die OHL unter Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg. Zudem war die Versorgung im Reich weitgehend zusammengebrochen. Die Kohl- oder Steckrübe war zum Symbol der Mangelversorgung geworden. Schon während der vermeintlichen Siege an der Front und trotz der Annexionen im Osten nagten die deutschen Durchschnittsbürger am Hungertuch.

Spätestens seit 1916 brach der Patriotismus der Anfangsjahre zusammen. Passiver und zunehmend aktiver Widerstand gegen die Fortsetzung des Krieges griff um sich. Die beiden russischen Revolutionen von 1917 sorgten als Initialzünder dafür, dass aus Unmut aktives Handeln, Streiks und schließlich der große Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918 wurden. Bereits im Sommer 1917 hatten Flotteneinheiten einen Aufstandsversuch gegen den Krieg gewagt. Der Widerspruch gegen die Herrschenden, die Kriegsgewinnler und Nutznießer des Krieges, denen dieser Krieg wie eine Badekur bekam, verschärfte sich. Es blieb die Frage, wie sich dies im politischen Machtgefüge widerspiegeln konnte.

Die Schlüsselrolle in diesem Drama spielte die deutsche Sozialdemokratie, die im August 1914 staatstragend geworden war. Das Deutsche Reich war im Angesicht der militärischen Niederlage, der Not im Lande und der sozialen Konflikte im November 1918 überreif für einen grundlegenden Wandel seiner Macht- und wohl auch Eigentumsverhältnisse. Die Mehrheitssozialdemokratie musste sich wie im Augst 1914 entscheiden: Will sie sich staatstragend und konservativ geben, sich den bislang politisch Mächtigen und unverändert wirtschaftlich Besitzenden anbiedern, um als Anerkennung ihr Konzept einer schrittweisen Reformierung der bestehenden Ordnung durchsetzen zu können? Dafür musste sie 1914 den Kriegskrediten zustimmen, dafür musste sie 1916, 1917 und im Januar 1918 den wachsenden Widerstand der Kriegsgegner unter den Soldaten und an der Heimatfront beruhigen und kanalisieren. Dazu musste die Sozialdemokratie in der Krise von 1918 bereitstehen, um die aufständischen Matrosen, Soldaten und Arbeiter von der Straße zu holen und auf einen vorsichtigen Reformkurs umzulenken. Sie musste sich gegen die Revolution, gegen die Enteignung der Kapitalisten und Großgrundbesitzer, gegen die Entmachtung der alten Funktionseliten stellen. Sie entschied sich für die parlamentarische Form der Machtausübung in Gestalt der Nationalversammlung. Vor allem entschied sie sich gegen die radikale Linke und für das Bündnis mit regulären Militärs und Freikorps, für den Mord an Arbeitern, an Liebknecht und Luxemburg.

Der radikale Antikriegsflügel um die linken Parteidissidenten Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Franz Mehring und den sich formierenden Spartakusbund sowie die Bremer Linken, die Revolutionären Obleute, aber auch anarchistische Kriegsgegner und Pazifisten waren die treibenden Kräfte dieser politischen Polarisierung. Sie konnten zwar Massen begeistern, hatten sich aber zu spät organisiert, weil sie lange an die Revolutionierung der eigenen Partei glaubten. Als diese sich 1917 spaltete und mit der USPD ein neuer Akteur die politische Bühne betrat, waren die radikalen Kräfte auch hier in der Minderheit. Erst in den zugespitzten Auseinandersetzungen im November und Dezember 1918 fassten sie den Entschluss, eine eigene, kommunistische Partei zu gründen. Ihr Zuspätkommen, ihre organisatorische Schwäche, die massive Repression und der Mord an ihren Führern sorgten auf lange Zeit für einen vergleichsweise geringen Einfluss. Den suchten sie schließlich mit den USPD-Genossen und mit vielen spontanen Aktivitäten von der Basis her.

Die Novemberrevolution steht für einen Friedenskampf um jeden Preis, für das Handeln der Massen mit dem Ziel einer demokratischen, friedensorientierten Ordnung und radikale soziale Veränderungen. Sie offenbarte aber auch die Schwäche der Arbeiterklasse und der Linken, die sich für kleine Zugeständnisse vereinnahmen ließen und für große Brüche nicht stark und organisiert genug waren. An ihr erwies sich die Fähigkeit der Herrschenden, ihre Macht zu bewahren und dafür auch Partner im gegnerischen Lager zu finden.

Im Übrigen war sich in jenen Tagen in Moskau Wladimir Iljitsch Lenin seines Triumphs und der Erfüllung seiner und der Hoffnungen des russischen Proletariats ganz sicher: »Wir standen allein. Jetzt sind wir nicht mehr allein. Jetzt ist Revolution in Berlin, in Österreich, in Ungarn; selbst in der Schweiz, in Holland und in Dänemark, in diesen freien Ländern, die den Krieg nicht gekannt haben - selbst dort wächst die revolutionäre Bewegung, und die Arbeiter fordern dort bereits die Organisierung von Räten. Jetzt hat sich gezeigt, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Die Revolution reift in der ganzen Welt heran. Wir sind darin die ersten gewesen, und unsere Aufgabe ist es, diese Revolution so lange zu verteidigen, bis unsere Verbündeten nachrücken, diese Verbündeten aber sind die Arbeiter aller Länder Europas. Diese Verbündeten werden uns um so näher sein, je maßloser sich ihre Regierungen gebärden.«

Der Streit um die Deutung der Ereignisse zwischen 1918 und 1923 ist oftmals genauso spannend, emotionsgeladen und interessengeleitet wie die damaligen politischen Auseinandersetzungen. Wer es vermag, die Geschichte zu deuten, zu schreiben, meist umzuschreiben, kann davon Gebrauch machen, um aktuelle Politik zu begründen, sie historisch zu rechtfertigen. Die Novemberrevolution ist hier wahrlich kein Einzelfall.

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